Krise? Welche Krise?
Die Automobilindustrie zwischen erneuter Chipkrise und geoökonomischen Spannungen
Chipkrise? Da war doch was. 2020 kam durch die weltweite Pandemie die Versorgung der Autoindustrie mit dringend benötigten Halbleitern, vor allem aus Asien, zum Erliegen. Die Folge war eine drastische Verknappung des Angebotes an Neufahrzeugen. Auch wenn die OEMs zeitweilig hohe Preise am Markt durchsetzen konnten, entstand unterm Strich ein BIP-Schaden für die deutsche Autoindustrie über drei Jahre in Höhe von 100 Milliarden Euro – nicht eingerechnet Sekundäreffekte wie Taskforces und eine Repriorisierung der Fertigung. Die zeigen wir in unserer Studie „Von Chips und Chancen“, die wir gemeinsam mit dem Verband der Elektro- und Digitalindustrie ZVEI erstellt haben.
Ein Jahr später, bedingt durch den russischen Angriff auf die Ukraine, rissen die Kabelbäume. Diese einigermaßen simplen Bauteile bezogen viele europäische Hersteller zu einem großen Teil von ukrainischen Herstellern. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde evident, dass die Globalisierung an ihre Grenzen gekommen war. Vor allem das komplexe Netz der weltumspannenden Lieferketten, das gerade die Autobauer über Jahrzehnte in Perfektion geflochten hatten, war überdehnt und riss. Margen-optimiertes Off-shoring führte zu einer erhöhten Anfälligkeit der Lieferkette. Hersteller und Zulieferer mussten erkennen, dass Kontrolle und Sicherheit der Lieferkette Kostenersparnis beim Einkauf stechen. Bereits das Platzen der Dotcom-Blase und die Fukushima-Katastrophe waren kritische Stresstests für die Supply Chains, aber die Doppelkrise 2020/21 führte zu einer deutlich größeren Amplitude.
Ein Déjà-vu zur Unzeit
Heute, im Herbst 2025, bedingt durch die erneute Disruption in der Halbleiterlieferkette, erlebt die Branche ein schmerzhaftes Déjà-vu: Erneut bringen fehlende Bauteile im einstelligen Euro-Bereich eine ganze Produktionstrasse zum Erliegen – denn auch ein fehlender Chip für die ABS- oder E-Motorsteuerung kann die gesamte Autoproduktion ausbremsen.
Die aktuelle Verwerfung erwischt viele Hersteller auf dem falschen Fuß, da sie in der wirtschaftlich angespannten Situation ihre Lagerbestände optimieren, um ihre Liquidität zu schonen. Dadurch sind plötzliche Nachfragespitzen kaum abzufedern.
Es wird deutlich, dass die Risiko-Mitigation noch nicht bei allen Herstellern auf dem Level ist, wo sie sein sollte. Hier gibt es Nachholbedarf. Denn das nächste, viel bedrohlichere Krisenszenario erscheint bereits am fernöstlichen Horizont: Mit den angekündigten Restriktionen bei der Ausfuhr von kritischen Rohmaterialien/Seltenen Erden, kann es erneut zu einschneidenden Produktionseinschränkungen kommen. Etwa 90 Prozent des für die Chipfertigung benötigten Galliums stammen aus China.
Auch wenn sich die Ereignisse aus 2021 bis 2023 und heute auf den ersten Blick gleichen, gibt es doch einen signifikanten Unterschied. Die Pandemie war eine Art Naturkatastrophe, die nicht intendiert war. Und selbst der Krieg in der Ukraine, wenn auch von Russland vom Zaun gebrochen, hatte wohl nicht das primäre Ziel, die europäische Industrie zu treffen.
Auslöser der aktuellen Spannungslage mag ein Hersteller sein, dessen plötzlicher Wechsel in chinesische Hand die niederländische Regierung veranlasst hat, die Kontrolle zu übernehmen. Der Fall macht jedoch deutlich, wie stark die Branche bewusst gesetzten geopolitischen oder geoökonomischen Schachzügen unterworfen ist, die ihre Ursache in der wachsenden politischen und ökonomischen Rivalität der USA und Chinas haben. Bei den Chips wie bei den Seltenen Erden hat die chinesische Regierung einen Kurswechsel in Richtung offener Dominanz vollzogen und den Einsatz im machtpolitischen Poker erhöht. Die mag als Signal an Europa verstanden werden, sich nicht zu stark an die USA anzulehnen.
Risiken neu bewerten und absichern
Wie bei anderen Kernthemen der Transformation haben wir bei den Lieferketten kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Die Unternehmen müssen daher den 2020 eingeschlagen Weg konsequenter als bisher umsetzen. Bei der Risiko-Mitigation der Chips sollten die Grundannahmen neu justiert werden. Es braucht jetzt einen Mix aus Marktintelligenz, Diversifizierung der Zulieferer und größere Puffer und Reserven, um den spontanen Ausfall von Zuliefern abzufedern. Das muss jedoch differenziert gemanagt werden. Eine Standard-Bevorratung von zwölf Wochen ist für einige Teile gar nicht nötig, für andere reichen sie hingegen nicht aus. Die Risiken, die am eklatantesten sind, sollte man zuerst angehen. Das können dann nicht nur zwölf Wochen sein. Grundsätzlich muss das Primat der Kosteneffizienz hinterfragt werden. Dieses Mindset ist seit den 90er Jahren in der DNA durch entsprechende Incentivierung verankert. In ruhigen Zeiten mag das zum Wohle des Unternehmens gewesen sein. In Krisenzeiten braucht es neue KPIs, die gegen die reine Einkaufseffizienz gestellt werden.
Um frühzeitig auf globale Veränderungen zu reagieren, ist Transparenz über Abhängigkeiten und Schwachstellen in der eigenen Lieferkette entscheidend: Wer seine Lieferketten so entflechten will, wie es derzeit US-Unternehmen tun, muss sie genau kennen. Transparenz in Echtzeit bildet die Basis für ein vorausschauendes Risikomanagement und erhält die Handlungsfähigkeit in Krisen.
Die Komplexität der Analyse lässt sich dabei auch durch Softwarelösungen, wie beispielsweise „Check Your Value Chain“ von PwC, deutlich reduzieren: Die revisionssichere Lieferketten-Compliance-Software führt täglich eine vollautomatisierte Risikoanalyse des gesamten Geschäftspartner-Portfolios durch, wobei kontinuierlich zahlreiche Datenquellen wie makroökonomische Indizes und Medienquellen ausgewertet werden. Auf dieser Basis können Unternehmen bei risikobehafteten Geschäftspartnern proaktiv mit Maßnahmen reagieren, Strukturen und Prozesse anpassen, und dadurch die Resilienz ihrer Lieferketten stärken.
Und schließlich müssen die Unternehmen der Autoindustrie ein neues Verständnis ihrer eigenen Rolle verinnerlichen. Sie sind zugleich Subjekt und Objekt einer neuen Geoökonomie, in der alles mit allem zu tun hat und in der die Grenzen zwischen Politik und Wirtschaft verschwimmen. Bilaterale Beziehungen, die von Loyalitäten und Bündnissen geprägt sind, lösen multilaterale und multipolare Geflechte ab.
In diesem Kontext gewinnen die Halbleitertechnologien als Treiber nachhaltigen Wirtschaftens zunehmend an Bedeutung. Sie bilden die technologische Basis für ressourceneffiziente und zukunftsfähige Mobilitätslösungen. Die Sicherung widerstandsfähiger Lieferketten dieser Halbleitertechnologien ist deshalb nicht nur eine Frage der Wirtschaftlichkeit, sondern der Zukunftsfähigkeit der Automobilbranche.
Weiterer Autor: Tanjeff Schadt
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