„Eine multipolare Welt ist eine Illusion“

Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München, spricht im Interview über die aktuellen globalen Krisenherde – und was sie für Deutschland und Europa bedeuten.

PwC: Herr Masala, aktuell beschäftigt uns vor allem der Konflikt zwischen Israel und Palästina. Besteht die Gefahr eines Flächenbrands in der Region?

Prof. Dr. Carlo Masala: Nein, die Gefahr eines Flächenbrands ist momentan nicht gegeben. Die anderen Akteure in der Region zeigen sich momentan nicht bereit, stärker in diesen Konflikt einzugreifen. 

Das muss ja nicht so bleiben.

Richtig. Das hängt davon ab, wie sich der Krieg Israels gegen die Palästinenserorganisation Hamas entwickelt. Sollte Israel in Probleme geraten, dann könnten andere Akteure versuchen, die Schwäche Israels auszunutzen. 

An wen denken Sie?

Vor allem an die libanesische antiisraelische Organisation Hisbollah. Wenn Israel seine militärische Überlegenheit gegenüber der Hamas nicht richtig ausspielen kann, könnte sie sich dazu ermutigt fühlen, stärker in den Konflikt einzugreifen. Momentan funktioniert die Abschreckung der Hisbollah und des Irans durch die Amerikaner allerdings sehr gut. 

Manche Beobachter:innen behaupten, der Iran habe die Anschläge auf Israel im Oktober angeordnet.

Dafür gibt es keine Beweise. Fest steht aber, dass der Iran die Hamas ausgebildet und bewaffnet hat. Mit den Anschlägen wollte die Hamas unter anderem die Annäherung der arabischen Staaten an Israel im Zuge der Abraham Accords verhindern.

Am 7. Oktober, am Tag der Anschläge, standen die Verhandlungen zwischen Saudi-Arabien und Israel kurz vor dem Abschluss. Die arabischen Staaten, die eine Normalisierung mit Israel suchen, wissen genau, dass Israel der einzige Staat in der Region ist, der gegebenenfalls iranische Atomanlagen bombardieren kann und will, sollte der Iran in die Nähe einer Nuklearwaffe kommen.

Ist das eine realistische Gefahr?

Der Iran hat die Vereinbarung, dass sein Atomprogramm ausschließlich friedlichen Zwecken dient, aufgekündigt. Er versucht seit 18 Jahren, Nuklearwaffen zu erwerben. Insofern: Ja, es ist sehr realistisch, dass der Iran diesen Weg geht.

Was bedeutet der Konflikt im Mittleren und Nahen Osten für die EU und für Deutschland?

Er hat vor allem massive innenpolitische Auswirkungen: die propalästinensischen Demonstrationen mit 300.000 Menschen in London etwa. Zum Teil sehen wir Ausschreitungen auch in Amsterdam und Paris, weniger in Berlin. Militärisch tragen die USA nach wie vor die Hauptlast der Unterstützung Israels; die Europäer in deutlich geringerem Maße.

Geht es zulasten der Unterstützung für die Ukraine, dass die Vereinigten Staaten jetzt in einen weiteren Konflikt eingebunden sind?

Momentan noch nicht. Es ist vielmehr eine politische Frage. Schon vor den Terrorangriffen der Hamas geriet die Ukrainehilfe bei Teilen der Republikanischen Partei in die Kritik.

Diesen gilt der Krieg als europäischer Konflikt?

Genau. Präsident Biden will die eine Unterstützung nicht gegen die andere ausspielen. Aber Teile der Republikaner haben bereits Gesetzesvorlagen in den Kongress eingebracht, mit denen sie die Hilfe für Israel verdoppeln und die für die Ukraine reduzieren möchten.

Ein republikanischer US-Präsident würde die Ukrainehilfe einstellen?

Davon ist auszugehen, ja. Und das wiederum würde die Rollen der EU und Deutschlands neu definieren.

Könnten die europäischen Staaten denn die Unterstützungslücke, die dann entstände, überhaupt füllen?

Nein, jedenfalls nicht kurzfristig. Selbst wenn der politische Wille vorhanden wäre, könnten wir das nicht so schnell in industrielle Kapazitäten übersetzen. Dazu fehlt eine vernünftige Zusammenarbeit zwischen der Rüstungsindustrie und der Politik.

Weil das ein Tabuthema ist?

Nein, darum geht es nicht. Bis wir insbesondere die Produktionskapazitäten der Industrie hochziehen könnten, sehr viel Zeit vergehen, weil viele dieser Kapazitäten gar nicht mehr existieren. In den USA erhöhen die vielen Munitionsfabriken einfach ihre Produktion. Wir müssen Munitionsfabriken erst bauen.

Mit Ihrem Ende 2022 erschienenen Buch über die globalen Krisen haben Sie den Begriff „Weltunordnung“ geprägt. Wann war denn die Welt zuletzt in Ordnung – und wer hat sie in Unordnung gebracht?

In Ordnung – im Sinne von Berechenbarkeit in der internationalen Politik – war die Welt, als es eine stabile Bipolarität zwischen der Sowjetunion und den USA gab. Die Welt war noch in Ordnung nach 1991, als es eine Übermacht der Vereinigten Staaten gab. Zugleich begannen mit dieser Übermacht der Vereinigten Staaten die Unberechenbarkeit und die Instabilität, weil die Vereinigten Staaten mit ihrer Übermacht Mitte der 1990er-Jahre anfingen, an bestimmten Grundpfeilern des internationalen Systems zu rütteln.

Woran denken Sie da?

An die Tendenz, unilateral vorzugehen und nicht auf Partner und Verbündete zu achten. Sie zeigte sich insbesondere beim Versuch der Demokratisierung des Mittleren und Nahen Ostens, der im Angriff auf den Irak im Jahr 2003 gipfelte. Er hat den Widerstand gegen die

von den Amerikanern beherrschte Weltordnung massiv erhöht. Insofern befinden wir uns seit Anfang der 2000er-Jahre in einer Phase der Weltunordnung.

Brauchen wir eine neue Bipolarität – oder eine neue Ordnung für eine multipolare Welt?

Es wird keine multipolare Welt geben. Das ist eine Illusion. Es wird in Zukunft entweder eine

amerikanisch-chinesische Bipolarität geben oder weiterhin eine abgeschwächte amerikanische Unipolarität. Staaten wie Brasilien, Indonesien und andere sind machtpolitisch viel zu schwach, um eine eigenständige Rolle im internationalen politischen System zu spielen.

Die Großmächte sind also gewissermaßen als Manager des internationalen Systems gefordert?

Genau, das kann man so sagen. Diese Rolle werden die enflussreichsten Länder der Welt aber nur einnehmen, wenn sie annähernd gleich stark sind. Solange das nicht der Fall ist, müssen wir schlicht und einfach mit der Unordnung leben. Es gibt dazu keine Alternative.

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