EuGH: Ausstellung von Scheinrechnungen durch Arbeitnehmer ohne Wissen des Arbeitgebers

Vor dem EuGH geht es zurzeit in einem polnischen Fall um die haftungsrelevante Frage, wer Schuldner der Mehrwertsteuer ist, wenn Mitarbeiter eines Unternehmens durch die Erstellung fiktiver Rechnungen unter dem Namen des Unternehmens den Mehrwertsteuerbetrug eines Dritten unterstützt haben. Die Schlussanträge der Generalanwältin geben erste Hinweise.

Ausgangslage

Die Haftung für Steuerschulden aus unrichtigen Rechnungen bezog sich bislang stets auf ein eigenes Fehlverhalten des Unternehmens. Die „Haftung“ für die Beteiligung an einem Mehrwertsteuerbetrug eines Dritten knüpfte hingegen bislang immer an das Fehlen der erforderlichen Sorgfalt im Hinblick auf die Erbringung von Umsätzen im Rahmen einer Umsatzkette an. Dafür genügt es schon, dass das Unternehmen hätte wissen müssen, dass es mit seinem Umsatz an einem Umsatz teilnahm, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war.

Sachverhalt

Im Ausgangsverfahren haben Tankstellenmitarbeiter weggeworfene Zahlungsbelege eingesammelt und dann neue Rechnungen mittels eines zweiten „Buchungssystems“ über die dort genannten Treibstoffmengen erstellt und an Interessenten verkauft. Diese haben die Beträge für Treibstofflieferungen (die so nie stattgefunden haben) für den Vorsteuerabzug im Rahmen der Mehrwertsteuererklärung und wohl auch für den Betriebsausgabenabzug im Rahmen der Ertragsteuererklärung genutzt. Der polnische Staat konnte bei den Betrügern nicht den gesamten Mehrwertsteuerschaden beheben. Daher hat die Finanzverwaltung auch noch einmal auf das Unternehmen zugegriffen, welches die eigenen Umsätze zwar ordnungsgemäß versteuert, dem Anschein nach jedoch die fingierten Rechnungen selbst erstellt hat.

Vorlagefragen

Der EuGH muss nun den beiden folgenden Vorlagefragen nachgehen:

1. Ist in dem geschilderten Fall die Person, die die Mehrwertsteuer auf der Rechnung ausweist und die somit die Mehrwertsteuer schuldet, der Mehrwertsteuerpflichtige, dessen Angaben unrechtmäßig in der Rechnung verwendet wurden, oder der Arbeitnehmer, der in der Rechnung unter Verwendung der Angaben des Mehrwertsteuerpflichtigen unrechtmäßig die Mehrwertsteuer ausgewiesen hat?

2. Ist es für die Bestimmung, wer als derjenige anzusehen ist, der die Mehrwertsteuer in der Rechnung ausweist und zur Entrichtung der Mehrwertsteuer verpflichtet ist, erheblich, ob dem Mehrwertsteuerpflichtigen, der den betreffenden Arbeitnehmer beschäftigt, die Nichteinhaltung der erforderlichen Sorgfalt bei der Aufsicht über den Arbeitnehmer vorgeworfen werden kann?

Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott:

Konkret steht die Auslegung von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Fokus. Dieser soll der Gefahr eines unberechtigten Vorsteuerabzugs des Rechnungsempfängers durch eine korrespondierende Steuerschuld des Rechnungsaustellers begegnen.

Die GA kommt zu dem Ergebnis, dass der scheinbare Aussteller einer Rechnung (Arbeitgeber) über fiktive Umsätze nur dann die dort ausgewiesene Steuer schuldet, wenn (1) der Vorsteuerabzug dem Rechnungsempfänger noch nicht versagt werden konnte, (2) ihm die Ausstellung der Rechnung durch einen Dritten aufgrund einer besonderen Verantwortung (bzw. Nähe) zuzurechnen ist und (3) er nicht gutgläubig war. Eine Gutgläubigkeit kann dabei nur bei eigenem Verschulden des scheinbaren Ausstellers ausgeschlossen werden. Dieses Verschulden kann im Fall eines Steuerpflichtigen auch in der schuldhaft fehlerhaften Auswahl oder Überwachung seiner Arbeitnehmer gesehen werden.

In seiner ausführlichen Analyse widmet sich Frau Kokott dabei folgenden Aspekten:

Der Aussteller einer Rechnung im Sinne von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie

Sinn und Zweck von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie

Grenzen des Gefährdungstatbestandes

Notwendigkeit einer Gefährdung

Subjektive Zurechnung: der Aussteller einer Rechnung

Zurechnung kriminellen Verhaltens eines Dritten

Zurechnung fremden kriminellen Verhaltens nach dem „Prinzip“ eines Verbots von Betrug

Zurechnung des kriminellen Verhaltens der eigenen Arbeitnehmer anhand des Maßstabs der Bösgläubigkeit

Zum Maßstab der Gutgläubigkeit im Rahmen von Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

Fundstelle

EuGH, Schlussanträge vom 21. September 2023 (C‑442/22), Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Lublinie (Fraude d’un employé)

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