Proportionalität in der Versicherungsaufsicht – welches Potential bieten die Anpassungen im Zuge des Solvency-II-Reviews und der Umsetzung für den deutschen Markt tatsächlich?

Überblick über den aktuellen Stand der europäischen Aufsichtspraxis, Beleuchung noch ausstehender Konkretisierungen und zentraler Positionen der BaFin.

Proportionalität ist ein Grundprinzip der Solvency-II-Aufsicht – und weit mehr als eine technische Option. Es bedeutet nicht weniger Regulierung, sondern bessere, passgenaue Regulierung. Ziel ist es, Anforderungen an Art, Umfang und Komplexität der Geschäftstätigkeit eines Versicherers auszurichten. Die Aufsicht verfolgt dabei einen konsequent risikobasierten Ansatz. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der europäischen Aufsichtspraxis, beleuchtet noch ausstehende Konkretisierungen und zentrale Positionen der BaFin. Zudem wird hinterfragt, ob die vorgesehenen Maßnahmen tatsächlich praxistauglich und für den deutschen Markt sinnvoll umsetzbar sind.

SNCUs – ein Fortschritt mit Einschränkungen?

Mit Veröffentlichung der angepassten Solvency-II Richtlinie im EU-Amtsblatt im Januar 2025 wurde der Begriff der sogenannten Small and Non-Complex Undertakings (SNCUs) eingeführt. Die nationale Umsetzung (bspw. VAG) erfolgt bis zum 30. Januar 2027. SNCUs werden mit dem Solvency-II-Review systematisch von regulatorischen Erleichterungen profitieren. Dazu zählen u. a.: Vereinfachte Kapitalberechnungen, gebündelte Governance-Funktionen und geringere Berichtspflichten. Die Anwendung erfolgt automatisch, wenn die gesetzlichen Kriterien inkl. Genehmigung für die Klassifizierung als SNCU erfüllt sind. 

Auch wenn dies grundsätzlich zu begrüßen ist, bleibt die tatsächliche Wirkung in größeren Märkten abzuwarten – in Deutschland dürften nach vorläufigen Schätzungen lediglich rund 40 Unternehmen mit einem Marktanteil von unter 1 % als SNCUs klassifiziert werden. Der GDV kritisiert in diesem Zusammenhang die von EIOPA vorgeschlagenen starren Schwellenwerte für Nicht-SNCUs (15 Mrd. € an versicherungstechnische Rückstellungen (Leben) / 2 Mrd. € an Bruttoprämien (Nicht-Leben)) und plädiert für die Anwendung relativer und marktabhängiger Schwellenwerte – etwa orientiert an 20 % des nationalen Marktes, wie beim Quartalsreporting.

Ein weiterer Kritikpunkt des GDV betrifft Versicherungsgruppen: EIOPAs Vorschläge bieten bislang keine praxistauglichen Lösungen für Planungs- und Berichtserleichterungen auf Gruppenebene. Als Reaktion darauf sehen die geplanten Level-2-Anpassungen nun gezielte Entlastungen für SNCUs und SNCGs (Small and Non-Complex Groups) vor: Bestimmte Templates (S.01.01, S.01.02, S.23.01) sollen nur noch in Q1 und Q3 eingereicht werden, klima- und NatKat-bezogene Berichtspflichten entfallen und die Anforderungen zu außerbilanziellen Posten werden reduziert

Nicht-SNCUs – Potenzial mit Fragezeichen?

Mit dem Solvency-II-Review sollen zusätzlich auch Nicht-SNCUs unter bestimmten Voraussetzungen gezielt Proportionalitätsmaßnahmen in Anspruch nehmen dürfen. Diese Maßnahmen umfassen bspw. eine reduzierte Meldefrequenz für den RSR, die Zusammenlegung von Schlüsselfunktionen, eine geringere Häufigkeit der Überprüfung schriftlicher Unternehmensrichtlinien, die vereinfachte Bewertung der versicherungstechnischen Rückstellungen bei unwesentlichen Garantien sowie die Befreiung von der Pflicht zur Erstellung eines kurzfristigen Liquiditätsplans. Vor diesem Hintergrund wird ein entsprechender delegierter Rechtsakt entwickelt, um eine deutliche Straffung für Genehmigungsbedingungen für vereinfachende Maßnahmen bei Nicht-SNCUs festzulegen.

Geplant ist ein strukturierter Antragsprozess, der größere oder komplexere Versicherer nicht pauschal ausschließt, sondern eine risikobasierte Einzelfallprüfung ermöglicht bzw. operationalisiert. Vom Umfang, Komplexität und Aufwand für den Antragsprozess hängt ab, wie stark die Erleichterungen durch den Solvency-II-Review tatsächlich sind. Der GDV kritisiert den von EIOPA vorgeschlagenen Genehmigungsrahmen als zu bürokratisch und komplex: Insgesamt bis zu 18 qualitative Bedingungen – vier allgemeine und 14 maßnahmenspezifische. Angekündigt hatte die EIOPA eine überschaubare Anzahl an Maßnahmen, um eine praxisgerechte Antragstellung zu ermöglichen. Die Detaillierungen der Bedingungen wird Unternehmen allerdings dabei unterstützen, die Anträge zielgerichtet vorzubereiten – und gleichzeitig Klarheit schaffen, aus welchen konkreten Gründen ein Antrag ggf. abgelehnt werden könnte.

Proportionalität über SNCUs hinaus – Klarer Kurs der BaFin

In ihrer aktuellen Rede betont Julia Wiens, Exekutivdirektorin Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht, dass Proportionalität nicht auf SNCUs beschränkt ist. Auch größere oder komplexere Unternehmen können Vereinfachungen nutzen – entscheidend ist das individuelle Risikoprofil. Die BaFin setzt hier auf einen pragmatischen Dialog und fordert von Unternehmen eine aktive, dokumentierte Herleitung der gewählten Umsetzungsform.

Auch bei der Umsetzung des Solvency-II-Reviews zeigt sich die Aufsicht flexibel: Unternehmen, die künftig nicht mehr unter Solvency II fallen, sind vorübergehend nicht an DORA-Vorgaben gebunden. Die BaFin wird in der Übergangsphase keine aufsichtlichen Maßnahmen gegen diese Unternehmen ergreifen.

Proportionalität in der deutschen Praxis: Doppelter Ansatz, drei Säulen

In ihrem Fachbeitrag vom Juni 2025 verdeutlicht die BaFin, wie sie das Proportionalitätsprinzip in der laufenden Aufsicht anwendet. 

Grundlage ist der Ansatz der doppelten Proportionalität:

  • Versicherer sind verpflichtet, ihre Risikosituation realistisch einzuschätzen und aufsichtsrechtliche Vorgaben entsprechend anzupassen.
  • Die Aufsicht selbst richtet Art, Tiefe und Frequenz ihrer Prüfungen ebenfalls am Risikoprofil des Unternehmens aus.

Das Proportionalitätsprinzip zeigt sich in allen drei Säulen von Solvency II – mit konkreten Erleichterungen für Unternehmen mit geringerem Risikoprofil:

  • Säule 1 – Kapitalanforderungen: Die Standardformel erlaubt unter bestimmten Voraussetzungen vereinfachte Berechnungen, etwa bei immateriellen Risiken oder durch Gruppierungen. Voraussetzung ist stets, dass Risiken nicht unterschätzt werden.
  • Säule 2 – Governance und Risikomanagement: Hier ist Proportionalität besonders stark ausgeprägt. Unternehmen mit geringem Risikoprofil dürfen z. B. Schlüsselfunktionen bündeln, Leitlinien seltener aktualisieren oder vereinfachte Methoden für Risikoanalysen verwenden. Auch die Häufigkeit von ORSA-Prozessen und internen Überprüfungen kann risikoorientiert reduziert werden.
  • Säule 3 – Berichterstattung: Der Detaillierungsgrad von Berichten und Meldefrequenz wie SFCR oder RSR hängt vom Risikoprofil ab. Die BaFin gewährt kleinen Unternehmen vereinfachte Formate oder sogar Befreiungen.

Was bedeutet das für Unternehmen?

Unabhängig von der Unternehmensgröße gilt: Versicherer müssen aktiv und nachvollziehbar darlegen, wie sie regulatorische Anforderungen risikoorientiert umsetzen. Voraussetzung dafür sind transparente Prozesse, eine strukturierte Risikoanalyse, dokumentierte Entscheidungsgrundlagen sowie ein realistisches Verständnis des eigenen Risikoprofils.

Unternehmen, die künftig von Erleichterungen im Rahmen des Proportionalitätsprinzips profitieren möchten, sollten sich frühzeitig auf ein systematisches Antragsverfahren vorbereiten – etwa durch klar begründete Proportionalitätsentscheidungen und eine sorgfältig dokumentierte Antragstellung.

Fazit: Proportionalität – Chance mit offenem Ausgang

Mit der Stärkung des Proportionalitätsprinzips entwickelt sich die Aufsicht stärker hin zu einer differenzierten und risikoorientierten Steuerung. Die Einführung von SNCUs und SNCGs sowie geplante Proportionalitätsmaßnahmen für Nicht-SNCUs zielen grundsätzlich in die richtige Richtung. Doch ob die Erleichterungen in der Praxis ankommen, hängt maßgeblich von der konkreten Ausgestaltung und nationalen Umsetzung ab.

Am deutschen Markt bleiben Zweifel, ob die Maßnahmen ausreichend Entlastung bringen – auch wenn erste Nachbesserungsvorschläge, etwa bei Genehmigungsprozessen und Gruppenregelungen, vorliegen. Entscheidend wird sein, ob die BaFin die angekündigte Dialogbereitschaft in spürbare Vereinfachungen überführt

Laufende Updates zum Thema erhalten Sie über das regulatorische Horizon Scanning in unserer Recherche-Applikation PwC Plus. Lesen Sie hier mehr über die Möglichkeiten und Angebote.

Zu weiteren PwC Blogs

Kontakt

Zum Anfang