Wegzugsbesteuerung bei einem Wegzug in die Schweiz und Freizügigkeit

Auch wenn nach unionsrechtlichen Vorgaben in Verbindung mit dem sogenannten Freizügigkeitsabkommen der Europäischen Union und der Schweiz bei einem im Jahr 2011 erfolgten Wegzug in die Schweiz die im Wegzugszeitpunkt entstehende nationale Steuer auf den Vermögenszuwachs (Wegzugsteuer) dauerhaft und zinslos zu stunden ist (EuGH, Urteil vom 26.02.2019, C-581/17 „Wächtler“), hindert dies die Festsetzung der Steuer nicht. Dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) in einem aktuellen Urteil entschieden.

Sachverhalt

Der verheiratete Kläger mit deutscher Staatsangehörigkeit ist zu 50 % an einer Kapitalgesellschaft in der Schweiz beteiligt und deren Geschäftsführer. Im Streitjahr 2011 mietete er eine Wohnung in der Schweiz an. Seine Ehefrau wohnte weiterhin in Deutschland.

Der Kläger beantragte die Einzelveranlagung und erklärte in seiner Einkommensteuererklärung, als Grenzgänger nicht im Inland der Besteuerung zu unterliegen.

Das beklagte Finanzamt gelangte zu dem Ergebnis, der Kläger habe infolge seines Wegzugs in die Schweiz einen Veräußerungsgewinn zu versteuern (sog. Wegzugsbesteuerung nach § 6 des Außensteuergesetzes (AStG) i.V.m. § 17 des Einkommensteuergesetzes (EStG), jeweils in der im Streitzeitraum gültigen Fassung). Das Finanzamt setzte Einkommensteuer fest.

Hiergegen wendete sich der Kläger. Die Besteuerung und sofortige Erhebung der Steuer verstoße gegen das sog. Freizügigkeitsabkommen mit der Schweiz (FZA). Während des Rechtsbehelfsverfahrens änderte das Finanzamt die Steuerhöhe zugunsten des Klägers. Dieser bezahlte die Einkommensteuer „vorläufig“.

Die Klage vor dem Finanzgericht Baden-Württemberg hatte Erfolg (siehe unseren Blogbeitrag). Das Finanzgericht hatte ein Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gerichtet (Finanzgericht Baden-Württemberg, Beschluss v. 14. Juni 2017, 2 K 2413/15). Der EuGH hat in seiner Entscheidung festgestellt, dass die sofortige Besteuerung der Wertsteigerung eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft im Zeitpunkt des Wegzugs in die Schweiz mit dem Freizügigkeitsabkommen zwischen der EU und der Schweiz nicht vereinbar ist (EuGH, Urteil v. 26. Februar 2019, C-581/17 „Wächtler“, siehe unseren Blogbeitrag).

Entscheidung des BFH

Der BFH hat der Revision stattgegeben und die Entscheidung der Vorinstanz aufgehoben.

Auch wenn auf der Grundlage des im Verlauf des finanzgerichtlichen Verfahrens ergangenen EuGH-Urteils Wächtler § 6 AStG geltungserhaltend mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass die Wegzugsteuer im Rahmen des Steuererhebungsverfahrens dauerhaft und zinslos von Amts wegen zu stunden ist, kann sie im (hier angegriffenen) Einkommensteuerbescheid festgesetzt werden.

Das Finanzgericht hat die Reichweite der in ständiger Rechtsprechung bei Unionsrechtsverstößen zugelassenen sogenannten geltungserhaltenden Reduktion des nationalen Rechts zu eng bestimmt. Denn es geht insoweit um eine Gesetzesanwendung, die den Anwendungsvorrang des unmittelbar geltenden Unionsrechts unter größtmöglicher Wahrung des national-rechtlichen Gesetzesbefehls sicherstellt.

Die Unionsrechtswidrigkeit führt danach gerade nicht zu einer vollständigen Unanwendbarkeit oder Nichtigkeit der nationalen Vorschrift. Vielmehr ist dem Anwendungsvorrang des Primärrechts vor nationalem Recht durch das "Hineinlesen" der vom EuGH verbindlich formulierten unionsrechtlichen Erfordernisse in die betroffene Norm Rechnung zu tragen (z.B. BFH, Urteile vom 03.02.2010, I R 21/06, BStBl II 2010, 692; vom 15.01.2015, I R 69/12, BFHE 249, 99, m.w.N.).

Infolgedessen kann es geboten sein, ein "europarechtswidriges Tatbestandsmerkmal" nicht zu beachten (BFH-Urteile vom 17.07.2008, X R 62/04, BStBl II 2008, 976; vom 21.10.2008, X R 15/08, BFH/NV 2009, 559) oder einen im nationalen Gesetz nicht vorgesehenen Gegenbeweis zuzulassen (z.B. BFH, Urteile vom 21.10.2009, I R 114/08, BStBl II 2010, 774; vom 03.02.2010, I R 21/06, BStBl II 2010, 692), im Übrigen aber die Vorschrift in ihrem Bestand zu erhalten.

Nach diesen allgemeinen Maßstäben, die im Schrifttum Zustimmung erfahren haben (z.B. Hey, StuW 2010, 301; Kokott/Henze in Mellinghoff/Schön/Viskorf [Hrsg.], Steuerrecht im Rechtsstaat, Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, S. 279, 293 ff.) und auch im Bereich der Anwendung der FZA-Maßgaben Anwendung finden, um eine materiell-rechtliche Besserstellung der dortigen Regelungsadressaten im Vergleich zu Unionsrechtsbürgern bei Anwendung der Grundfreiheiten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu verhindern, ist es zulässig, im Zeitpunkt des Wegzugs in die Schweiz die Wegzugsteuer gemäß § 6 Abs. 1 AStG festzusetzen (a.A. Hörnicke, ISR 2021, 97, 101 und 103; wohl auch Schönfeld/Erdem, StuW 2022, 70, 93).

Damit wird auch ermöglicht, auf den Zeitpunkt des Wegzugs festzuhalten, auf welchen Anteil des Steuersubstrats das Besteuerungsrecht des Wegzugsstaates entfällt (so FG Köln, Beschluss vom 11.05.2021, 2 V 1929/20, juris, Rz 33). Zugleich ist aber den vom EuGH verbindlich formulierten Vorgaben dadurch Rechnung zu tragen, dass die im nationalen Gesetz nicht vorgesehene zinslose und bis zur Anteilsveräußerung andauernde Stundung von Amts wegen zu gewähren ist, um dem Steuerpflichtigen die Ausübung seines Rechts, sich in der Schweiz niederzulassen, zu ermöglichen.

Fundstelle

BFH, Urteil vom 6. September 2023 (I R 35/20), veröffentlicht am 11. Januar 2024.

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