Bezeichnung von Umfang und Grund der Vorläufigkeit in Änderungsbescheiden - Auslegung des Vorläufigkeitsvermerks

Ein in einem Änderungsbescheid enthaltener Vorläufigkeitsvermerk, der an die Stelle des bereits im Vorgängerbescheid enthaltenen Vorläufigkeitsvermerks tritt, bestimmt den Umfang der Vorläufigkeit neu und regelt abschließend, inwieweit die Steuer nunmehr vorläufig festgesetzt ist, wenn für den Steuerpflichtigen nach seinem objektiven Verständnishorizont nicht erkennbar ist, dass der ursprüngliche Vorläufigkeitsvermerk trotz der Änderung wirksam bleiben soll. Dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) in einem aktuellen Urteil entschieden.

Sachverhalt

Die Kläger sind Ehegatten und werden für das Streitjahr 2001 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

Die Klägerin machte in der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr einen Verlust aus selbständiger Arbeit geltend. Das Finanzamt lehnte die Berücksichtigung dieses Verlustes bei der Einkommensteuerfestsetzung für das Streitjahr ab. Der Bescheid erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO).

In dem Änderungsbescheid für 2001 vom 06. Januar 2003 legte das Finanzamt erstmals die Verluste der Klägerin aus selbständiger Arbeit der Steuerfestsetzung zugrunde und hob den Vorbehalt der Nachprüfung auf. Der Bescheid erging nach § 165 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO teilweise vorläufig. In den Erläuterungen hieß es, dass der Bescheid vorläufig sei hinsichtlich der Einkünfte aus selbständiger Arbeit sowie anhängiger Verfassungsbeschwerden bzw. anderer gerichtlicher Verfahren. Aus den Erläuterungen ging nicht hervor, welcher der mitgeteilten Vorläufigkeitsgründe sich auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO und welcher sich auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO bezog.

Mit Einkommensteuerbescheid vom 07. April 2006 änderte das Finanzamt die Festsetzung für das Streitjahr unter Bezugnahme auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. Auch dieser Bescheid erging nach § 165 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO teilweise vorläufig. Der Bescheid enthielt in den Erläuterungen keinen Hinweis darauf, dass sich die Vorläufigkeit weiterhin auf die Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit beziehen sollte.

Mit Einkommensteuerbescheid vom 11. Januar 2011 änderte das Finanzamt die Festsetzung für das Streitjahr erneut und erkannte die Verluste der Klägerin aus selbständiger Arbeit nicht mehr an.

Die Klage vor dem Finanzgericht Rheinland-Pfalz hatte Erfolg.

Entscheidung des BFH

Der BFH hat sich der Entscheidung der Vorinstanz angeschlossen und die Revision als unbegründet zurückgewiesen.

§ 165 Abs. 1 Satz 3 AO verlangt in formeller Hinsicht für die Begründung des Vorläufigkeitsvermerks, dass dessen Umfang und Grund anzugeben sind. Diese Angaben zeigen auch die Grenzen für die endgültige Festsetzung bzw. Feststellung auf.

Sind die Formulierung des Vorläufigkeitsvermerks und die Erläuterungen in dem Bescheid nicht hinreichend klar, so kann sich die Wirksamkeit des Vermerks auch durch Würdigung der Umstände des Einzelfalls ergeben. Zu prüfen ist dabei, ob der Umfang des Vorläufigkeitsvermerks aus Sicht eines objektiven Empfängers hinreichend erkennbar war (vgl. BFH, Urteil v. 12. Juli 2007 - X R 22/05).

Für den Regelungsinhalt der Nebenbestimmung ist danach entscheidend, wie der Adressat ihren materiellen Gehalt nach den ihm bekannten Umständen --seinem "objektiven Verständnishorizont"-- unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (vgl. § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB)) verstehen konnte. Dies gilt auch für die Änderung eines Vorläufigkeitsvermerks in einem Änderungsbescheid.

Da Umfang und Grund der Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 3 AO anzugeben sind, muss der Steuerpflichtige den in einem Änderungsbescheid enthaltenen - geänderten - Vorläufigkeitsvermerk so verstehen, dass der Umfang der Vorläufigkeit gegenüber dem ursprünglichen Bescheid geändert und nun im Änderungsbescheid abschließend umschrieben worden ist. Es wäre mit dem Grundsatz des § 124 Abs. 1 Satz 2 AO nicht zu vereinbaren, dem Steuerpflichtigen die Spekulation darüber zuzumuten, ob die Beschränkung des Vorläufigkeitsvermerks auf erneuter Prüfung oder auf einem Versehen der Finanzverwaltung beruht (BFH, Urteil v. 19. Oktober 1999 - IX R 23/98).

Nach diesen Grundsätzen hat das Finanzgericht zu Recht entschieden, dass der Einkommensteuerbescheid für 2001 vom 07. April 2006 in Bezug auf die negativen Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit nicht vorläufig und somit nicht nach § 165 AO änderbar war. Aus dem Inhalt des Änderungsbescheides vom 07. April 2006 konnte die Klägerin als Empfängerin des Bescheides nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Festsetzung in Bezug auf ihre negativen Einkünfte aus selbständiger Arbeit weiterhin vorläufig sein sollte.

Ein in einem Änderungsbescheid enthaltener Vorläufigkeitsvermerk, der an die Stelle des bereits im Vorgängerbescheid enthaltenen Vorläufigkeitsvermerks tritt, bestimmt den Umfang der Vorläufigkeit neu und regelt abschließend, inwieweit die Steuer nunmehr vorläufig festgesetzt ist.

Fundstelle

BFH, Urteil vom 16. Juni 2020 (VIII R 12/17), veröffentlicht am 03. September 2020.

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