EuGH: Vorsteuerabzug bei Ist-Versteuerung erst bei Vereinnahmung des Entgelts
In seinem heutigen Urteil hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die deutsche Regelung, nach der das Recht auf Vorsteuerabzug – auch bei einer Versteuerung nach vereinnahmten Entgelten - bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, nicht mit den europarechtlichen Gegebenheiten, insbesondere der Artikel 167 und Artikel 66 Abs. 1 Mehrwertsteuerrichtlinie, in Einklang steht.
Hintergrund
Die Klägerin, eine GbR, hatte ein angemietetes Gewerbegrundstück weitervermietet. Sowohl die GbR als auch der Vermieter hatten zur Umsatzsteuerpflicht optiert und durften die Steuer nicht nach vereinbarten, sondern nach vereinnahmten Entgelten berechnen. Die Besonderheit im Streitfall: Aufgrund einer teilweisen Stundung wurden die Mietzahlungen seitens der GbR erst in 2013 bis 2016 für die Grundstücksüberlassung der Jahre 2009 bis 2012 geleistet. Die GbR machte ihren Vorsteuerabzugsanspruch zu dem Zeitpunkt geltend, in dem die Zahlung erfolgte. Dem widersprach das Finanzamt: Der Vorsteuerabzug für die Mietzahlungen an die Vermieterin müsse in den Jahren erfolgen, auf die sich die Mietzahlungen bezogen hätten und nicht in den (späteren) Jahren, in denen die tatsächlichen Zahlungen erfolgt seien. Nach deutschem Umsatzsteuerrecht entsteht die Steuer - entsprechend der Auffassung des Finanzamts - auch dann schon mit der Ausführung des Umsatzes, wenn der Leistungserbringer seine Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet. Das Finanzgericht hat jedoch Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit den Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie (hier Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie -MwStRL).
In seinen Schlussanträgen hatte der Generalanwalt (GA) in der deutschen Regelung einen Widerspruch zu der MwStRL gesehen (siehe hierzu unseren Blogbeitrag/Update vom 9. September 2021).
Entscheidung des EuGH
Der EuGH folgt der Einschätzung des GA vollumfänglich. Und er stellt zunächst fest, dass der Wortlaut von Art. 167a MWStRL klar und unzweideutig ist. Dieser lautet: Die Mitgliedstaaten können im Rahmen einer fakultativen Regelung vorsehen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug eines Steuerpflichtigen, (...) erst dann ausgeübt werden darf, wenn der entsprechende Lieferer oder Dienstleistungserbringer die Mehrwertsteuer auf die dem Steuerpflichtigen gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen erhalten hat. Nach Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten abweichend u. a. vom Grundtatbestand in Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie (wonach der Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird) vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder Gruppen von Steuerpflichtigen spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht. Nach Ansicht des EuGH habe der deutsche Gesetzgeber von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht, indem er in § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b UStG vorgesehen hat, dass die Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen bei Berechnung der Steuer nach vereinnahmten Entgelten mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums entsteht, in dem die Entgelte vereinnahmt worden sind. Daraus folge, so der EuGH, dass in Fällen, in denen der Steueranspruch gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht, auch das Recht auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Vereinnahmung des Preises entsteht.
Die Europarichter erinnern an die seinerzeitige Begründung und an das Erfordernis für die Einführung des Art. 167a MwStRL, nämlich um kleine und mittlere Unternehmen zu fördern, denen es Schwierigkeiten bereitet, vor Eingang der Zahlung ihrer Kunden Mehrwertsteuer an die zuständige Behörde zu entrichten, und um es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, ein fakultatives Cash- accounting-System einzuführen, das keine negativen Auswirkungen auf den Cashflow ihrer Mehrwertsteuereinnahmen hat.
Fazit: Vorbehaltlich der Nachprüfungen, die das vorlegende Finanzgericht hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen der nationalen Abweichung gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b („Entstehung des Steueranspruchs spätestens bei Vereinnahmung des Preises“) und Art. 167 MwStRL vorzunehmen hat, sei somit davon auszugehen, dass das Recht der Grundstücksgemeinschaft auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Vereinnahmung des Preises durch den Vermieter entstanden ist.
Fundstelle
EuGH-Urteil vom 10. Februar 2022 (C-9/20), Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136
Eine englische Zusammenfassung des Urteils finden Sie hier.