EuGH: Kein Abzug finaler Verluste einer Freistellungsbetriebsstätte?

Der EuGH ist erneut hinsichtlich der Weiterentwicklungen seiner früheren Rechtsprechung in Sachen „Marks & Spencer“ gefragt. In einem am 22. Oktober 2020 veröffentlichten Beschluss hatte der BFH die keineswegs finale Geschichte in Sachen „finaler Verluste“ um eine zusätzliche Variante bereichert. Auf dem aktuellen Prüfstand steht die Frage, ob sich aus der Niederlassungsfreiheit eine Pflicht zur Berücksichtigung „finaler“ Verluste einer ausländischen Freistellungsbetriebsstätte beim deutschen Stammhaus ergibt. In seinen heutigen Schlussanträgen stellt der Generalanwalt fest, dass sich eine solche Pflicht aus den Bestimmungen über die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nicht herleiten lässt.

Hintergrund und Ausgangslage

Der Streitfall vor dem BFH betrifft eine deutsche AG (Klägerin), die seit August 2004 über eine Zweigniederlassung in Großbritannien verfügte. Da die Klägerin aus der Zweigniederlassung keine Gewinne erzielte, wurde diese im Februar 2007 geschlossen. Das Finanzamt ließ die Verluste der Betriebsstätte bei der Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer der Klägerin unberücksichtigt.

Der BFH hat den Fall dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt, da aus seiner Sicht - u.a. im Hinblick auf die divergierenden EuGH-Entscheidungen in Sachen Timac Agro (Urteil vom 17.12.2015, C-388/14) und Bevola/Trock (Urteil vom 12.06.2018, C-650/16) - die Behandlung von Verlusten im Fall einer DBA- Freistellung des Ergebnisses von in anderen Mitgliedstaaten belegenen Betriebsstätten noch nicht hinreichend geklärt ist. Mehr zum Vorlagebeschluss des BFH lesen Sie in unserem Blogbeitrag vom 23. Oktober 2020.

Vorlagefragen

Sollten die unionsrechtlichen Gegebenheiten dem deutschen Abzugsverbot entgegenstehen (Antwort zur Vorlagefrage 1 des BFH), möchte der BFH wissen, ob dies auch für die Gewerbesteuer gilt (Frage 2). Bejahendenfalls: Gilt dies auch, obgleich die zumindest theoretische Möglichkeit besteht, dass die Gesellschaft erneut eine Betriebsstätte in dem betreffenden Mitgliedstaat eröffnet, mit deren Gewinnen die früheren Verluste ggf. verrechnet werden könnten (Frage 3)? Weiter soll geklärt werden, ob dann auch jene Verluste der Betriebsstätte berücksichtigungsfähig sind, die nach dem Recht des Belegenheitsstaats der Betriebsstätte mindestens einmal in einen nachfolgenden Veranlagungszeitraum vorgetragen werden konnten (Frage 4) und inwieweit die Berücksichtigung der grenzüberschreitenden „finalen“ Verluste der Höhe nach begrenzt ist (Frage 5).

Schlussanträge des Generalanwalts

Für den Generalanwalt (GA) stellt die deutsche Steuerregelung mangels objektiv vergleichbarer Sachverhalte keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar. Er schlägt dem Gerichtshof demzufolge vor, die erste Frage entsprechend zu verneinen.

Die vorliegend bestehende Ungleichbehandlung einer im Sitzstaat der Muttergesellschaft befindlichen Betriebsstätte gegenüber einer in einem anderen Mitgliedsstaat befindlichen Betriebsstätte stellt dann keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, wenn sie Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Die der ersten Frage des BFH zugrunde liegenden Unklarheiten betreffen ausschließlich das Erfordernis der objektiven Vergleichbarkeit.

Hier gilt laut GA, dass bei einer gebietsfremden (hier: in Großbritannien belegenen) Betriebsstätte, die zu einer Gesellschaft gehört, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) hat, und die der ausschließlichen Besteuerungsbefugnis des Mitgliedstaats unterliegen, in dem sie belegen sind (hier: Großbritannien), die Situation dieser Betriebsstätte mit denjenigen gebietsansässiger Betriebsstätten nicht objektiv vergleichbar ist.

Ziel des Art. XVIII DBA-Großbritannien ist es, die Doppelbesteuerung von Gewinnen und, symmetrisch hierzu, den doppelten Abzug von Verlusten zu verhindern. Nach der Rechtsprechung EuGH, so der GA, befinden sich Betriebsstätten, die in einem anderen als dem betreffenden Mitgliedstaat belegen sind, grundsätzlich nicht in einer Situation, die mit der Situation von in diesem Mitgliedstaat gebietsansässigen Betriebsstätten vergleichbar wäre (so z.B. der EuGH in Sachen Timac Agro, Rn. 65). Es gelte nur dann etwas anderes, wenn die Steuerregelung des Sitzstaats dieser Gesellschaft die Gewinne gebietsfremder Betriebsstätten der Steuer unterwirft und/oder den Abzug ihrer Verluste durch die gebietsansässige Gesellschaft, zu der sie gehören, zulässt, und diese Betriebsstätten hierdurch gebietsansässigen Betriebsstätten gleichstellt.

Den beiden zuvor geschilderten Urteilen des EuGH lagen unterschiedliche steuerliche Gegebenheiten zugrunde: In der Rechtssache Timac Agro Deutschland hatte der Sitzstaat ein DBA geschlossen, nach dem auf im Quellenstaat erzielte Einkünfte die Freistellungsmethode angewandt wurde. Er hatte somit auf seine Befugnis zur Besteuerung der Einkünfte von im Quellenstaat belegenen Betriebsstätten verzichtet. Dagegen hatte der Sitzstaat in der Rechtssache Bevola und Jens W. Trock sich unilateral dafür entschieden, durch eine nationale Rechtsvorschrift die Einkünfte von zu gebietsansässigen Gesellschaften gehörenden gebietsfremden Betriebsstätten nicht zu besteuern, obwohl er dazu befugt gewesen wäre.

Der GA führt ergänzend weiter aus, dass der EuGH in Rn. 39 des Urteils Bevola und Jens W. Trock zwar festgestellt habe, dass „die fraglichen nationalen Bestimmungen, die die Doppelbesteuerung der Gewinne und den doppelten Abzug der Verluste einer gebietsfremden Betriebsstätte vermeiden sollen, ganz allgemein darauf abzielen, sicherzustellen, dass die Besteuerung einer Gesellschaft mit einer solchen Betriebsstätte der Leistungsfähigkeit dieser Gesellschaft entspricht“, und dass „die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft mit einer gebietsfremden Betriebsstätte, die endgültige Verluste erlitten hat, in gleicher Weise beeinträchtigt ist wie die einer Gesellschaft, deren gebietsansässige Betriebsstätte Verluste erlitten hat“. Aber: Die Leistungsfähigkeit, so der GA, sei kein allein entscheidender Faktor für die Beurteilung der Frage zur Vergleichbarkeit. Das im Urteil Bevola und Jens W. Trock genannte Ziel der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit sei ein allgemeines, abstraktes Besteuerungsprinzip und nicht geeignet, der abkommensrechtlichen Freistellungsmethode einen zusätzlichen Normzweck beizugeben, der nicht bereits in den konkreten Zielen der Vermeidung von Doppelbesteuerung und doppelter Verlustberücksichtigung zum Ausdruck kommt.

Zu den Vorlagefragen 2 bis 5: Aufgrund der vorgeschlagenen Antwort auf die erste Frage bedürfen die zweite bis fünfte Frage, die für den Fall gestellt wurden, dass die erste Frage bejaht wird, keiner Beantwortung durch den Gerichtshof mehr. Der Vollständigkeit halber und für den Fall, dass der Gerichtshof zu einer von der vorgeschlagenen Antwort auf die erste Frage abweichenden Auffassung kommen sollte, wurden auch diese Fragen vom GA nacheinander untersucht (ausführlich in Rn. 51 bis Rn. 75 der Schlussanträge).

Fundstelle

EuGH, Schlussanträge vom 10. März 2022 in der Rechtssache C-538/20, W (Déductibilité des pertes définitives d’un établissement stable non-résident)

Eine englische Zusammenfassung der Schlussanträge finden Sie hier.

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