EuGH: Pflichtangaben im Prospekt zur Zusammensetzung des Vorstands von Investmentgesellschaften

Der Europäische Gerichtshof hat in einem bulgarischen Vorabentscheidungsersuchen zur Frage des Gleichgewichts zwischen der Gewährleistung des Anlegerschutzes und der Erleichterung des freien Verkehrs von Anteilen an Unternehmen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) innerhalb der EU Stellung genommen und entschieden, dass die Identität der Mitglieder des Verwaltungs-, Leitungs- und Aufsichtsorgans von Investmentgesellschaften eine Angabe von wesentlicher Bedeutung im Prospekt ist, die laufend auf dem neuesten Stand gehalten werden muss.

Hintergrund

Der Vorlage liegt folgender Sachverhalt zugrunde. Die Invest Fund Management AD verwaltet fünf Investmentfonds. Sie unterliegt der Regulierung und Aufsicht der Kommission für Finanzaufsicht, Bulgarien (KFN). Am 28. August 2019 wurde im betreffenden nationalen Handelsregister vermerkt, dass zwei neue nicht geschäftsführende Mitglieder in den Vorstand der Invest Fund Management aufgenommen wurden. Nach Ansicht der KFN war die Invest Fund Management verpflichtet, die Prospekte aller fünf von ihr verwalteten Investmentfonds innerhalb von 14 Tagen zu aktualisieren. Diese Frist lief am 11. September 2019 ab. Invest Fund Management aktualisierte die Prospekte am 17. Oktober 2019.

Am 15. April 2020 stellte die KFN fest, dass Ordnungswidrigkeiten begangen worden seien und erließ fünf Bußgeldbescheide gegenüber Invest Fund Management. Diese focht diese Bescheide vor dem zuständigen Gericht an, welches sodann beschlossen hat, dem EuGH insgesamt vier Fragen zur Auslegung der einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts zur Vorabentscheidung vorzulegen. Die Fragen fallen in zwei Kategorien. Die ersten drei Fragen betreffen die Bedeutung des Begriffs „Angaben von wesentlicher Bedeutung im Prospekt“ und insbesondere die Frage, ob die Ernennung neuer nicht geschäftsführender Vorstandsmitglieder einer Verwaltungsgesellschaft eine solche Angabe von wesentlicher Bedeutung ist, die diese Gesellschaft nach Art. 72 der Richtlinie 2009/65 verpflichtet, die Prospekte der von ihr verwalteten Fonds zu aktualisieren. Die vierte Frage betrifft die Befugnis der KFN, Sanktionen wegen Nichterfüllung dieser mutmaßlichen Verpflichtung zu verhängen.

Die vier Vorlagefragen und deren Beantwortung durch den EuGH

(Frage 1) Welche Bedeutung wollte der europäische Gesetzgeber dem Begriff „Angaben von wesentlicher Bedeutung“ im Prospekt, wie dieser in Art. 72 der Richtlinie 2009/65 verwendet wird, verleihen?

(Frage 2) Ist jede Änderung der erforderlichen Mindestangaben in den Prospekten, die in Anhang I Schema A vorgesehen sind, immer vom Begriff der „Angaben von wesentlicher Bedeutung“ gemäß Art. 72 der Richtlinie umfasst wird, so dass diese rechtzeitig zu aktualisieren sind?

Antwort des EuGH: Art. 72 der Richtlinie 2009/65/EG ist dahin auszulegen, dass die in Anhang I Schema A dieser Richtlinie vorgesehenen Angaben über eine Verwaltungsgesellschaft (u. a. Name und Funktion der Mitglieder der Verwaltungs-, Leitungs- und Aufsichtsorgane), die der Prospekt nach Art. 69 Abs. 2 der Richtlinie mindestens enthalten muss, unter den Begriff „Angaben von wesentlicher Bedeutung im Prospekt“ im Sinne von Art. 72 der Richtlinie fallen, so dass sie auf dem neuesten Stand zu halten sind.

Begründung: Die festgestellte Aktualisierungspflicht der Angaben von wesentlicher Bedeutung gilt unabhängig, ob es sich um geschäftsführende oder nicht geschäftsführende Mitglieder handelt. Denn der Unionsgesetzgeber habe hinsichtlich dieser unentbehrlichen Angaben weder nach Maßgabe ihrer Bedeutung für den Anleger noch anhand eines anderen Kriteriums eine Rangordnung festgelegt.

Das Vorbringen u. a. der deutschen Regierung, dass die Tragweite von Art. 72 der Richtlinie 2009/65 („Die Angaben von wesentlicher Bedeutung im Prospekt werden auf dem neuesten Stand gehalten“) nur unter Berücksichtigung von Art. 78 zu bestimmen sei (der „wesentliche Informationen für den Anleger“ betrifft), hält der EuGH für nicht zielführend. Denn Artikel 78 regele, welche Art von Informationen als „wesentliche Informationen für den Anleger“ anzusehen sind, nämlich sinnvolle Angaben zu den wesentlichen Merkmalen des betreffenden OGAW, wobei Art. 78 Abs. 3 dieser Richtlinie darüber hinaus eine Reihe von Informationen nennt, die „wesentliche Elemente des betreffenden OGAW“ darstellen und als solche in dem von dieser Bestimmung erfassten Dokument enthalten sein müssen. Art. 72 der Richtlinie 2009/65 hingegen betrifft nicht die wesentlichen Elemente des betreffenden OGAW, sondern die Angaben von wesentlicher Bedeutung im Prospekt. Dies, so der EuGH, liefe darauf hinaus, zwei unterschiedliche Dokumente, nämlich die „wesentlichen Informationen für den Anleger“ und den Prospekt einander gleichzusetzen.

Die Beantwortung der dritten Frage war im Hinblick der Antwort auf die zweite Frage obsolet.

(Frage 4) Ist Art. 99а Buchst. r der Richtlinie 2009/65 dahin auszulegen, dass die Verhängung einer Sanktion gegen eine Verwaltungsgesellschaft – für jeden der von ihr verwalteten Investmentfonds – nur bei einer wiederholten Nichterfüllung der in den innerstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung der Art. 68 bis 82 der Richtlinie 2009/65 auferlegten Pflichten zur Unterrichtung der Anleger zulässig ist?

Antwort des EuGH: Art. 99a steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der gegen eine Verwaltungsgesellschaft, die nicht innerhalb der in dieser nationalen Regelung festgelegten Frist die vorgesehene verpflichtende Aktualisierung des Prospekts mehrerer Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren vorgenommen hat, für jedes dieser Organismen eine Sanktion verhängt werden kann, obwohl die Änderung, die in diesen Prospekten vorzunehmen gewesen wäre, einzig die Zusammensetzung eines Organs der Verwaltungsgesellschaft betrifft, vorausgesetzt, die verwaltungsrechtliche Sanktion ist wirksam, abschreckend und verhältnismäßig.

Begründung: Nach Art. 99a Buchst. r der Richtlinie 2009/65 können die Mitgliedstaaten in ihren Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie Sanktionen vorsehen, insbesondere wenn eine Investmentgesellschaft oder für jeden von ihr verwalteten Investmentfonds eine Verwaltungsgesellschaft es wiederholt versäumt, den durch die innerstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung der Art. 68 bis 82 dieser Richtlinie festgelegten Verpflichtungen betreffend die Information der Anleger nachzukommen. Die besagte Richtlinie 2009/65 bewirke keine vollständige Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, so dass die Mitgliedstaaten die Sanktionen wählen können, die ihnen angemessen erscheinen. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten Sanktionen für andere als die in Art. 99a Buchst. r dieser Richtlinie genannten Verhaltensweisen einführen können. Diese Sanktionen können auch strenger ausfallen als die in der Richtlinie 2009/65 vorgesehenen. Im Übrigen lege die Richtlinie 2009/65 die Liste regelwidrigen Verhaltens, das zu sanktionieren ist, nicht abschließend fest; vielmehr bestimmt sie regelwidriges Verhalten, das „insbesondere“ zu sanktionieren ist.

Fundstelle

EuGH, Urteil vom 20. Oktober 2022 (C‑473/20), INVEST FUND MANAGEMENT.

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