EuGH: Unionsrechtlicher Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und formelle Anforderungen bei fakultativen Steuerermäßigungen
Aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens des Bundesfinanzhofs im Rahmen eines Antrags auf Energiesteuerentlastung hat der EuGH entschieden, dass der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch für fakultative Steuerermäßigungen gilt mit der Folge, dass der Mitgliedstaat die Steuerermäßigung nach Ablauf der in seinem Recht geregelten Antragsfrist nicht verweigern darf, wenn im Zeitpunkt des Eingangs des Antrags bei der zuständigen Behörde noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist.
Hintergrund
Die Klägerin stellte beim Hauptzollamt Hamburg (HZA) Anträge auf Energiesteuerentlastung für die Monate August bis November 2010 nach § 54 Abs. 1 EnergieStG unter Verwendung des vorgeschriebenen amtlichen Vordrucks. Diese Anträge gingen erst im Mai 2012 beim HZA ein; währenddessen hatte im Jahr 2011 eine Außenprüfung bei der Klägerin begonnen. Es ist unstreitig, dass die Klägerin während des gesamten Jahres 2010, abgesehen von der Antragstellung, alle Voraussetzungen für eine Steuerentlastung gemäß § 54 Abs. 1 EnergieStG erfüllte.
Das HZA lehnte die Entlastung von der Energiesteuer jedoch mit der Begründung ab, dass Shell ihren Antrag auf Steuerentlastung nicht innerhalb der in § 100 Abs. 1 EnergieStV festgelegten Frist gestellt habe. Hierbei handele sich um eine Ausschlussfrist, die der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden diene, wie der EuGH bereits festgestellt habe. Nach erfolglosem Einspruch hatte die Klage Erfolg. Dagegen wendet sich das HZA im Revisionsverfahren vor dem BFH.
Nach Dafürhalten des BFH im Vorlagebeschluss kommt es darauf an, ob ein Anspruch der Klägerin auf Steuerentlastung ausgeschlossen ist, weil der auf amtlich vorgeschriebenem Vordruck einzureichende Antrag erst nach Ablauf der gesetzlichen Antragsfrist, jedoch vor Ablauf der Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 AO beim HZA eingegangen ist, oder ob diesem Ausschluss der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entgegensteht (BFH-Vorlagebeschluss vom 8. Juni 2021 – VII R 44/19).
Entscheidung des EuGH
Der Effektivitätsgrundsatz und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung entgegen, dass die Nichteinhaltung der Frist für die Stellung eines Antrags auf Steuerentlastung automatisch und ausnahmslos zur Ablehnung dieses Antrags führt, und zwar auch dann, wenn die Frist für die Festsetzung der betreffenden Steuer – die gleich lang ist und zum selben Zeitpunkt zu laufen beginnt wie die Frist für die Antragstellung, aber unterbrochen, ausgesetzt oder verlängert werden kann – etwa wegen einer beim Antragsteller durchgeführten Außenprüfung noch nicht abgelaufen ist.
In diesem Fall könne eine solche Regelung nämlich bewirken, dass ein Steuerpflichtiger sein Recht auf Steuerentlastung unabhängig von den Umständen des Einzelfalles verliert, obwohl sich der betreffende Mitgliedstaat dafür entschieden hat, den Wirtschaftsteilnehmern in seinem Hoheitsgebiet dieses Recht zu garantieren.
Diese Erwägungen, so der EuGH, werden durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts gestützt, um dessen Auslegung der BFH gebeten hatte und der von nationalen Vorschriften, mit denen Unionsrecht durchgeführt wird, ebenfalls einzuhalten ist. Nach diesem Grundsatz müssen die Mitgliedstaaten Mittel einsetzen, mit denen sich das Ziel der nationalen Regelung wirksam, aber mit möglichst geringer Beeinträchtigung der unionsrechtlichen Prinzipien erreichen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2021, Finanzamt N und Finanzamt G C‑45/20 und C‑46/20, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Da nicht ersichtlich ist, dass unter den vorliegenden Umständen im Ausgangsfall die Zulassung eines Antrags auf Steuerbefreiung oder ‑ermäßigung, der nach Ablauf der Frist für die Stellung eines solchen Antrags, aber innerhalb der Frist für die Festsetzung der fraglichen Steuer gestellt wurde, mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar wäre, und unter Berücksichtigung der Systematik und des Zwecks der Richtlinie 2003/96, die auf dem Grundsatz beruhen, dass Energieerzeugnisse nach ihrer tatsächlichen Verwendung besteuert werden, steht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ebenfalls entgegen, wenn an der tatsächlichen Verwendung der Energieerzeugnisse kein Zweifel besteht.
Fundstelle
EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2022 in der Rechtssache C-553/21 Shell Deutschland Oil