EuGH: Verzinsung bei Erstattung einer unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuer
In einem polnischen Vorabentscheidungsersuchen war der EuGH wegen einer Entscheidung der dortigen Steuerverwaltung gefragt, die Zahlung von Zinsen auf unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene überzahlte Steuern zu begrenzen und zu verweigern. Im Zuge dessen hatte der EuGH auch Gelegenheit, seine bisherige Rechtsprechung von 2014 in Sachen Emerging Markets zu präzisieren und diese auf die besonders gelagerte Konstellation des Streitfalls anzuwenden.
Hintergrund
Der Kläger beantragte die Feststellung und Erstattung überzahlter Körperschaftsteuer für die Jahre 2012, 2013 und 2014 zuzüglich Zinsen für die Zeiträume vom Tag der Einbehaltung dieser Überzahlungen bis zum Tag ihrer Erstattung. Er machte geltend, die Feststellung dieser Überzahlungen ergebe sich aus dem Urteil vom 10. April 2014, Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company (C‑190/12).
Die polnische Steuerverwaltung hatte für die in den Jahren 2012 und 2013 entstandenen Überzahlungen dem Antrag auf Zinsen für den Zeitraum vom Tag der Einbehaltung der Steuer bis zum 30. Tag nach der Veröffentlichung des Urteils Emerging Markets im Amtsblatt der Europäischen Union, dem 10. Juli 2014, stattgegeben; im Übrigen wurde dieser Antrag abgelehnt. In Bezug auf die überzahlte Steuer für das Jahr 2014 wurde der Antrag auf Zinsen in vollem Umfang abgelehnt, da die Steuer nach dem genannten Datum einbehalten worden war.
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit der polnischen Regelung entgegenstehen, die (…) eine Verzinsung auf den 30. Tag nach der Veröffentlichung im EU-Amtsblatt begrenzt oder für den Fall, dass der Steuerpflichtige diese Überzahlung nach dem 30. Tag geleistet hat, sogar ganz ausschließt.
Entscheidung des EuGH
Der Effektivitätsgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit steht einer nationalen Regelung entgegen, die das Anfallen von dem betreffenden Steuerpflichtigen zustehenden Zinsen auf den überzahlten Betrag auf den 30. Tag nach dieser Veröffentlichung begrenzt und für den Fall, dass der Steuerpflichtige die Überzahlung nach diesem 30. Tag geleistet hat, Zinsen sogar ganz ausschließt.
Das Gericht weist darauf hin, dass der Anspruch auf Erstattung von Geldbeträgen, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat und der Anspruch auf Zahlung von Zinsen auf diese Beträge ein Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes der Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge sind (so im Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, Rn. 53), was ebenfalls für „unter Verstoß gegen das Unionsrecht“ erhobene Abgaben gilt. (Urteil C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, Rn. 60). Zu diesem Urteil siehe auch unseren zusammenfassenden Blogbeitrag vom 28. April 2022.
Insbesondere dürfen die Zinszahlungsmodalitäten nicht dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die erlittenen Einbußen vorenthalten wird; dies setzt u. a. voraus, dass die ihm gezahlten Zinsen den Gesamtzeitraum abdecken, der je nach Lage des Falles zwischen dem Tag, an dem er den fraglichen Geldbetrag entrichtet hat, und dem Tag liegt, an dem ihm dieser Betrag erstattet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. April 2022, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost u. a., C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20, Rn. 75).
Zu den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität:
Zur zeitlichen Begrenzung des Anfallens von Verzugszinsen führt der EuGH aus: Selbst wenn die Stellung eines Erstattungsantrags bereits innerhalb von 30 Tagen nach der Veröffentlichung des Urteils des Gerichtshofs im Amtsblatt der EU erfolgt, könne nicht verlangt werden, innerhalb einer derart kurzen Frist über die Verkündung des Urteils des Gerichtshofs informiert zu sein. Der Steuerpflichtige könne durchaus, ohne fahrlässig gehandelt zu haben, erst eine bestimmte Zeit nach Ablauf der Frist von 30 Tagen nach dieser Veröffentlichung Kenntnis davon erlangen, dass die ihm auferlegte Besteuerung gegen das Unionsrecht verstieß.
Hängt beispielsweise die Feststellung der Unvereinbarkeit der fraglichen Besteuerung mit dem Unionsrecht vom Ergebnis von Nachprüfungen ab, zu denen der Gerichtshof in seinem Urteil das vorlegende Gericht auffordert, kann ein Zeitraum verstreichen, der weit über den Ablauf dieser Frist von 30 Tagen hinausgeht. Erst recht, wenn die Nachprüfungen an die zuständige Steuerverwaltung verwiesen werden.
Die Frage zum Äquivalenzgrundsatz brauchte in Anbetracht der in Rn. 48 ff. des Urteils getroffenen Erwägungen des EuGH nicht mehr beantwortet zu werden.
Fundstelle
EuGH-Urteil vom 8. Juni 2023 Rechtssache C-322/22 Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wrocławiu