Widerruf der Gestattung der Ist-Besteuerung wegen Missbrauchs
Falls ein Leistungsempfänger bereits zur Vornahme des Vorsteuerabzugs berechtigt ist, obwohl beim leistenden Unternehmer aufgrund der Gestattung der Ist-Besteuerung noch keine Umsatzsteuer entstanden ist, beruht dies umsatzsteuerrechtlich nicht auf einer missbräuchlichen Gestaltung durch die am Leistungsaustausch beteiligten Steuerpflichtigen, sondern auf einer unzutreffenden Umsetzung oder Anwendung des Art. 167 MwStSystRL durch den Mitgliedstaat Deutschland. Dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) in einem aktuellen Urteil entschieden.
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Finanzamt die dem Kläger erteilte Gestattung der Besteuerung der Umsätze nach vereinnahmten Entgelten (sogenannte Ist-Besteuerung) zu Recht widerrufen hat.
Der Kläger ist Unternehmer und besteuert seine Umsätze aufgrund einer Genehmigung vom 02.04.1987, die unter dem Vorbehalt des Widerrufs erteilt worden ist, nach vereinnahmten Entgelten.
Im Sommer 2015 fand beim Kläger eine Außenprüfung des ‑damals noch für den Kläger örtlich zuständigen‑ Finanzamtes D statt. Der Prüferin fiel dabei auf, dass der Kläger als Geschäftsführer verschiedener Firmen (Leistungsempfängerinnen) unternehmerisch tätig war, denen er in erheblichem Umfang Rechnungen mit gesondertem Ausweis von Umsatzsteuer erteilt hatte, die von den Leistungsempfängerinnen jedoch nur über Verrechnungskonten gebucht und über mehrere Jahre hinweg nicht bezahlt wurden. In den Rechnungen waren weder Zahlungsfristen genannt noch Fälligkeiten ausgewiesen. Die Prüferin war der Auffassung, dass ein zeitnaher Zufluss der Entgelte für die abgerechneten Leistungen beim Kläger nicht angestrebt worden sei, sondern hätte gezielt vermieden werden sollen.
Das Finanzamt D widerrief daraufhin die Genehmigung zur Besteuerung der Umsätze nach vereinnahmten Entgelten mit Bescheid vom 18.11.2015 zum 01.01.2016. Die sofortige Vornahme des Vorsteuerabzugs bei den Leistungsempfängerinnen bei fehlender Vereinnahmung der Entgelte für die Umsätze beim Kläger begründe bei nahestehenden Personen die Vermutung, dass die Gestattung missbraucht werde.
Die Klage vor dem Finanzgericht Rheinland-Pfalz hatte keinen Erfolg.
Entscheidung des BFH
Der BFH hat der Revision stattgegeben und die Entscheidung der Vorinstanz aufgehoben.
Das Finanzamt kann sich auf die von ihm bejahte Gefährdung des Steueraufkommens im Streitfall nicht berufen, weil den Leistungsempfängern des Klägers der Vorsteuerabzug nach Art. 167 MwStSystRL erst zusteht, wenn diese die Umsatzsteuer an den Kläger gezahlt haben.
Die vom Finanzamt als Widerrufsgrund angeführte, vom Finanzgericht ebenfalls bejahte Gefährdung des Steueraufkommens beruht auf der unionsrechtlich unzutreffenden Prämisse, dass bei Leistungsbezug vom Kläger den Leistungsempfängerinnen der sofortige Vorsteuerabzug zusteht. Dies trifft jedoch nicht zu (Art. 167 MwStSystRL).
Es bleibt offen, ob der Begriff "geschuldet" im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG im Lichte des EuGH-Urteils Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 - C-9/20 (EU:C:2022:88, Rz 49) sowie der Art. 167, Art. 179 Satz 1 MwStSystRL eine zeitliche Komponente enthält und deshalb dahin gehend zu verstehen ist, dass die Umsatzsteuer vom Leistenden schon geschuldet werden muss, um vom Leistungsempfänger als Vorsteuer abgezogen werden zu können (und daher vom Leistungsempfänger noch nicht abgezogen werden darf, solange sie vom Leistenden noch nicht geschuldet wird).
Es kommt nicht darauf an, ob, nach welcher Vorschrift und wann die vom Kläger in Rechnung gestellte Umsatzsteuer entstanden ist (vgl. dazu BFH-Urteile vom 26.11.1964, V 194/62 U, BStBl III 1965, 184; vom 22.10.1970, V R 171/66, BStBl II 1971, 79; vom 09.10.2002, V R 73/01, BStBl II 2003, 217, unter II.2.c und e; vom 13.01.2005, V R 21/04, BFH/NV 2005, 928, unter II.3. und 4.; vom 05.06.2014, XI R 44/12, BStBl II 2016, 187, Rz 50 und 51 sowie § 16 Abs. 1 Satz 4 UStG).
Fundstelle
BFH, Urteil vom 12. Juli 2023 (XI R 5/21), veröffentlicht am 7. Dezember 2023.