EuGH: Mehrwertsteuererstattung bei Irrtum über zutreffende Höhe des Steuersatzes

In einem polnischen Vorabentscheidungsverfahren musste sich der EuGH mit einem Fall beschäftigen, in dem der Steuerpflichtige fälschlicherweise mit einem zu hohen Mehrwertsteuersatz kalkuliert hat. Rechnungen wurden aufgrund von Abrechnungen durch Kassenbons nicht ausgestellt. Die Europarichter bejahen den geltend gemachten Erstattungsanspruch unter Hinweis auf die Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Gleichbehandlung.

Hintergrund

Der Steuerpflichtige hatte fälschlicherweise mit einem zu hohen Mehrwertsteuersatz kalkuliert und diesen abgeführt. Der Fehler erfolgte offenbar erst auf Betreiben der Finanzverwaltung. Diese hatte festgestellt, dass in den Berichtigungen der Mehrwertsteuererklärungen der Wert des Einzelhandelsverkaufs, der durch Kassenbons über den Verkauf von Mehrfacheintrittskarten für Fitnesseinrichtungen belegt und bis dahin mit 23 % besteuert worden sei, später auf 8 % herabgesetzt worden sei, was zu einer Verringerung der geschuldeten Steuer geführt hatte. Der Steuerpflichtige möchte nun die zu viel abgeführte, aber nicht geschuldete Steuer zurückerhalten. 

Die entscheidende Frage ist, ob der Staat in diesem Fall die zu viel gezahlte Mehrwertsteuer behalten darf oder ob er sie an den Steuerpflichtigen zurückzuzahlen hat. Immerhin ist die Steuer in der gezahlten Höhe materiell nicht entstanden. Es gebe keine lokalen Rechtsvorschriften, so die polnische Finanzverwaltung, welche die Möglichkeit einer Berichtigung der Steuerbemessungsgrundlage und der geschuldeten Steuer im Fall eines Verkaufs regelten, über den keine Rechnung ausgestellt worden sei.

Im Vorlagefall hatte unter anderem auch die Europäische Kommission zur Problematik schriftlich Stellung genommen.

Entscheidung des EuGH

Die einschlägigen Bestimmungen in Richtlinie 2006/112/EG sind im Hinblick auf die Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Gleichbehandlung dahin auszulegen, dass sie einer Praxis der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der eine Berichtigung der geschuldeten Mehrwertsteuer (MwSt.) mittels einer Steuererklärung verboten ist, wenn Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen unter Anwendung eines zu hohen MwSt.-Satzes mit der Begründung bewirkt wurden, dass diese Umsätze nicht in Rechnung gestellt, sondern durch die Ausgabe von Kassenbons belegt wurden.

Selbst unter diesen Umständen kann der Steuerpflichtige, der zu Unrecht einen zu hohen Mehrwertsteuersatz angewandt hat, bei der Steuerverwaltung des betreffenden Mitgliedstaats einen Antrag auf Erstattung stellen, wobei die Steuerverwaltung des Mitgliedstaats nur dann eine ungerechtfertigte Bereicherung des Steuerpflichtigen geltend machen kann, wenn sie nach einer wirtschaftlichen Analyse unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände festgestellt hat, dass die wirtschaftliche Belastung, die dem Steuerpflichtigen durch die zu Unrecht erhobene Steuer entstanden ist, vollständig neutralisiert wurde.

Für den EuGH ist eine der tragenden Urteilsgründe, dass im vorliegenden Fall der Steuerpflichtige, der gemäß der ursprünglich von der dortigen Steuerverwaltung befürworteten Auslegung den Mehrwertsteuersatz von 23 % angewandt hat, zwangsläufig gegenüber etwaigen unmittelbaren Wettbewerbern, die den ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 8 % anwandten, benachteiligt war, sei es wegen der teilweisen oder vollständigen Abwälzung dieses Steuersatzes auf seine Preise, wodurch seine Wettbewerbsfähigkeit im Hinblick auf die von den fraglichen Wettbewerbern praktizierten Preise und damit möglicherweise sein Verkaufsvolumen beeinträchtigt wurde, oder wegen der Verringerung seiner Gewinnspanne, um seine Preise wettbewerbsfähig zu halten.

Der Generalanwalt hatte in seinen Schlussanträgen ergänzend darauf hingewiesen, dass – entgegen der Ansicht der Kommission – ein solches Ergebnis auch nicht durch die Entscheidungen des EuGH im Urteil vom 15. März 2007, Rechtssache Reemtsma Cigarettenfabriken, C‑35/05 zu Direktansprüchen des Leistungsempfängers gegen den Mitgliedstaat in Frage gestellt werden könne. Der EuGH habe dort nämlich entschieden, dass es den Grundsätzen der Effektivität und Neutralität der Mehrwertsteuer genüge, wenn ein System bestehe, bei welchem der Lieferer eines Gegenstands (…) deren Erstattung verlangen und zum anderen der Erwerber dieses Gegenstands eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung gegen den Lieferer erheben könne. Diese Möglichkeit bestehe für die Leistungsempfänger des Steuerpflichtigen im Ausgangsverfahren immer noch.

Fundstelle

EuGH, Urteil vom 21. März 2024 (C606/22), Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy (Possibilité de correction en cas de taux erroné).

Anmerkung zum Direktanspruch: In einem eigens hierzu veröffentlichten BMF-Schreiben vom 12. April 2022 hat die Finanzverwaltung erläutert, unter welchen Voraussetzungen das sich aus dem Unionsrecht ergebende und von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstrument des Direktanspruchs in der Umsatzsteuer (vgl. EuGH-Urteil vom 15. März 2007, C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken), nach dem ein Leistungsempfänger unter bestimmten Voraussetzungen über eine Billigkeitsmaßnahme die Erstattung einer rechtsgrundlos an den Leistenden gezahlten Umsatzsteuer direkt vom Fiskus (statt vom Leistenden) verlangen kann, möglich ist.

In einem weiteren Urteil hatte der EuGH auf Vorlage des Finanzgerichts Münster inzwischen erneut über die Frage eines Direktanspruchs auf Erstattung gegen das Finanzamt entschieden (EuGH-Urteil vom 7. September 2023, Rechtssache C‑453/22 Schütte; siehe Blogbeitrag).

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