EuGH: Gesamtschuldnerische Haftung für Steuerschulden eines Dritten
In einem aktuellen Urteil aufgrund eines belgischen Vorabentscheidungsersuchens hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Lichte des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zur gesamtschuldnerischen Haftung für die Zahlung der Mehrwertsteuer Stellung genommen. In dem Vorlagefall war keine Beurteilung unter Berücksichtigung der einzelnen Tatbeiträge der Steuerpflichtigen an der fortgesetzten Steuerhinterziehung möglich. Des Weiteren stand Art. 50 der Charta der Grundrechte zu Verbot der Doppelbestrafung im Fokus der gerichtlichen Entscheidung.
Sachverhalt (in Kürze)
Die belgische Steuerverwaltung stellte bei Dranken Van Eetvelde (Klägerin im Ausgangsverfahren) eine Reihe von Verstößen gegen die Mehrwertsteuergesetze und ‑regeln fest. Weiter wurde festgestellt, dass Dranken Van Eetvelde bereits zuvor wegen derselben Verstöße überprüft, besteuert und gerichtlich verurteilt worden sei. In diesem Zusammenhang wurde festgestellt, dass diese Gesellschaft ein System zur Ausstellung falscher Rechnungen errichtet hatte, in dessen Rahmen die auf den Rechnungen genannten Waren nicht an die auf den Rechnungen genannten Kunden, sondern an steuerpflichtige Kunden – Betreiber von Cafés, Hotels oder Restaurants – , geliefert wurden. Diese Verfahren führten zur Verhängung von Geldbußen gegen diese Gesellschaft, die bestandskräftig wurden.
Dranken Van Eetvelde machte u. a. geltend, dass nach der Rechtsprechung des EuGH niemand unbedingt für den Betrug eines anderen haftbar gemacht werden könne. Eine solche verschuldensunabhängige Haftung überschreite die Grenzen dessen, was zur Wahrung der Rechte des Fiskus und zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung erforderlich sei. Daraus ergebe sich ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Entscheidung des EuGH
Die Vorlagefragen des belgischen Gerichts erster Instanz beantwortete der EuGH nachfolgend (mit summarischer Erläuterung) wie folgt:
Antwort auf die erste Vorlagefrage
Art. 205 der Richtlinie 2006/112/EG einer nationalen Bestimmung nicht entgegen, die eine verschuldensunabhängige gesamtschuldnerische Haftung eines anderen Steuerpflichtigen als desjenigen vorsieht, der diese Steuer normalerweise schuldet, ohne dass das zuständige Gericht diese unter Berücksichtigung der Tatbeiträge verschiedener an einer Steuerhinterziehung beteiligten Personen beurteilen kann, sofern dieser Steuerpflichtige die Möglichkeit hat, den Nachweis dafür zu erbringen, dass er alle Maßnahmen getroffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass die von ihm bewirkten Umsätze nicht Teil der Steuerhinterziehung waren.
Nach Auffassung des EuGH ergibt sich aus Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass der gesamtschuldnerisch für die Zahlung der Mehrwertsteuer haftende Steuerpflichtige unabhängig vom Grad seiner Beteiligung an der Steuerhinterziehung allein für die Zahlung des gesamten Mehrwertsteuerbetrags in Anspruch genommen werden kann. Verlange man nämlich eine Abstufung der Verpflichtung des Gesamtschuldners zur Zahlung der geschuldeten Mehrwertsteuer, die sich nach seinem Anteil an der Haftung richtet, würde dies insbesondere im Fall von Betrug bedeuten, dass die Staatskasse und gegebenenfalls das für die Kontrolle ihrer Handlungen zuständige Gericht die jeweiligen Beiträge aller an dem Betrug beteiligten Personen im Voraus festlegen
Antwort zur zweiten Frage
Art. 205 der Richtlinie 2006/112 steht einer nationalen Bestimmung nicht entgegen, wonach ein anderer Steuerpflichtiger als derjenige, der die Mehrwertsteuer normalerweise schuldet, dazu verpflichtet ist, diese Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten, ohne dass das Recht des Letztgenannten auf Abzug der geschuldeten oder entrichteten Vorsteuer berücksichtigt wird.
Die nationalen Behörden und Gerichte haben das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird. Das Recht auf Vorsteuerabzug ist mithin nicht nur zu versagen, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Hinterziehung begeht, sondern auch, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm – oder einen solchen zumindest begünstigte –, der in eine Hinterziehung der Mehrwertsteuer einbezogen war.
Antwort zur dritten Frage
Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union seht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die eine Kumulierung von strafrechtlichen Sanktionen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen strafrechtlicher Natur, denen verschiedene Verfahren zugrunde liegen, für Taten derselben Art erlaubt, die jedoch in aufeinanderfolgenden Steuerjahren begangen wurden und die bezüglich eines Steuerjahrs im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens strafrechtlicher Natur und bezüglich eines anderen Steuerjahrs im Rahmen eines Strafverfahrens verfolgt wurden.
Hinsichtlich des Verbots der Doppelbestrafung („ne bis in idem“) führt der EuGH unter anderem aus, dass die „idem“-Voraussetzung verlangt, dass die materiellen Taten identisch sind. Dagegen findet der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung, wenn der fragliche Sachverhalt nicht identisch, sondern nur ähnlich ist. Die Identität der materiellen Tat ist nämlich als die Gesamtheit der konkreten Umstände zu verstehen, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind.
Fundstelle
EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2024 (C‑331/23) Dranken Van Eetvelde.