EuGH: Schlussanträge zur finanziellen Eingliederung und weiteren Fragen der umsatzsteuerlichen Organschaft

Der Bundesfinanzhof hat dem Europäischen Gerichtshof Fragen zur finanziellen Eingliederung und zur Unionsrechtskonformität der umsatzsteuerlichen Organschaft vorgelegt. Die Generalanwältin äußert sich in ihren Schlussanträgen kritisch und hält die deutschen Bestimmungen für nicht ausreichend und nicht zielführend.

Hintergrund

Der Streitfall betrifft das Jahr 2005 und die Frage, ob die für die umsatzsteuerliche Organschaft erforderliche finanzielle Eingliederung der Organgesellschaft auch dann vorliegt, wenn der Organträger zwar über eine Mehrheitsbeteiligung der Klägerin von 51 % an der Organgesellschaft, aber nur über einen Stimmrechtsanteil von 50 % in der Gesellschafterversammlung verfügt. Das Finanzamt lehnte die Organschaft aufgrund fehlender Stimmrechtsmehrheit des Mehrheitsgesellschafters ab. Das Finanzgericht hatte der Klage stattgegeben. Der BFH weist in seinem Vorlagebeschluss u. a. auf das EuGH-Urteil in der Rechtssache C-108/14 und C-109/14 („Larentia+Minerva“ und „Marenave“) hin, wonach grundsätzlich eine Mehrwertsteuergruppe nicht voraussetzen dürfe, dass ein Unterordnungsverhältnis zwischen dem Organträger und den Mitgliedern bestehe, es sei denn, es handele sich um eine Maßnahme, die zur Verhinderung missbräuchlicher Praktiken erforderlich und geeignet ist.

Mehr zu dem Vorlagebeschluss und den Vorlagefragen des BFH finden Sie in unserem diesbezüglichen Blogbeitrag vom 29. März 2020.

Schlussanträge der Generalanwältin

Die Generalanwältin schlägt dem EuGH vor, die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten:

Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG ist dahin auszulegen, dass er es gestattet, eng miteinander verbundene Personen, die einer Mehrwertsteuergruppe angehören, für die Zwecke der Erfüllung der Mehrwertsteuerpflichten als einen einzigen Steuerpflichtigen anzusehen. Diese Bestimmung ist jedoch dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die nur das die Gruppe beherrschende Mitglied – das über die Mehrheit der Stimmrechte und über eine Mehrheitsbeteiligung am beherrschten Unternehmen in der Gruppe der steuerpflichtigen Personen verfügt – unter Ausschluss der übrigen Mitglieder der Gruppe als Vertreter der Mehrwertsteuergruppe und als Steuerpflichtigen dieser Gruppe bestimmt.

1. Zu den unionsrechtlichen Voraussetzungen für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe:

Die Mitgliedstaaten dürfen, wenn sie von der ihnen in Art. 4 Abs. 4 der Sechsten Richtlinie eingeräumten Wahlmöglichkeit Gebrauch machen und bestimmte Voraussetzungen und Modalitäten für Mehrwertsteuergruppen festlegen, die Natur des Begriffs der Mehrwertsteuergruppe und das Ziel dieser Bestimmung nicht grundlegend verändern. Dass das UStG und die nationale Rechtsprechung zu restriktiv sind, trat bereits im EuGH-Urteil vom 15. April 2021 (Rechtssache C‑868/19, M-GmbH) zu Tage: Der EuGH entschied dort, dass das Umsatzsteuergesetz (UStG) Personengesellschaften, die nicht nur aus Personen bestehen, die in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind, rechtswidrig verwehrt, einer Mehrwertsteuergruppe anzugehören.

Aus der Entstehungsgeschichte von Art. 4 der Sechsten Richtlinie ergebe sich unzweifelhaft, dass der Begriff der steuerrechtlichen Organschaft nicht dazu führt, dass ihre Mitglieder keine eigenständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten mehr ausüben und dass Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht ausschließt, dass eine Gesellschaft auch dann mehrwertsteuerpflichtig bleibt, wenn sie von einer anderen Gesellschaft beherrscht wird oder in deren Besitz steht.

Nach EU-Recht ist der Steuerpflichtige, der die Mehrwertsteuer schuldet, die Mehrwertsteuergruppe selbst und nicht nur der Organträger dieser Gruppe, d. h. ein bestimmtes Mitglied dieser Gruppe, wie es nach deutschem Recht der Fall ist. Außerdem, so die Generalanwältin, gehe die genannte Bestimmung des UStG offensichtlich über eine Vereinfachung der Besteuerung verbundener Unternehmen hinaus, indem sie den Organträger zum Steuerpflichtigen bestimmt. Das UStG lasse damit u. a. außer Acht, dass die verbundenen Unternehmen eine eigenständige Rechtspersönlichkeit besitzen. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG verstößt nach Ansicht der Generalanwältin auch gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, nach dem die Wirtschaftsteilnehmer in der Lage sein müssen, das Organisationsmodell zu wählen, das ihnen, rein wirtschaftlich betrachtet, am besten zusagt, ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Umsätze von der in der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiung ausgeschlossen werden.

2. Zur Rechtfertigung der deutschen Regelung zwecks Verhinderung missbräuchlicher Steuerpraktiken:

Die Voraussetzung, dass die Mehrheit der Stimmrechte beim Organträger liegen muss, dient nach Auffassung der Generalanwältin nicht dazu, missbräuchliche Praktiken zu verhindern oder Steuerhinterziehung und ‑umgehung zu bekämpfen. Das Ziel der Vermeidung von Steuerumgehung stelle keine Rechtfertigung für die übermäßig restriktive deutsche Regelung für Mehrwertsteuergruppen dar. Der EuGH habe im Fall M-GmbH nämlich entschieden, dass „eine missbräuchliche Praxis nur dann vorliegen kann, wenn aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil erlangt werden soll“. Die Gefahr der Steuerhinterziehung etc. dürfe nicht rein theoretisch sein. - Aus der Rechtsprechung des EuGH ergebe sich auch, dass konkrete Begründungen erforderlich sind, wenn nachgewiesen werden soll, dass die restriktiven Bedingungen, die den Mehrwertsteuergruppen nach der deutschen Regelung des UStG auferlegt werden, tatsächlich der Bekämpfung von Steuerhinterziehung dienen.

Fundstelle

EuGH, Schlussanträge vom 13. Januar 2022 in der Rechtssache C‑141/20, Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie

Eine kurze englische Zusammenfassung der Schlussanträge finden Sie hier.

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