EuGH zum Umfang des unionsrechtlichen Zinsanspruchs bei Einzelfallentscheidung von Behörden

Aufgrund dreier Vorlagefragen des Finanzgerichts Hamburg hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seinem heutigen Urteil ausführlich zur Auslegung des unionsrechtlichen Zinsanspruchs Stellung genommen. Die verbundenen Rechtssachen betreffen Fragen zu den Folgen von Rechtsanwendungsfehlern. In seinen Ausführungen nimmt der EuGH auch die nationalen Gerichte in die Pflicht.

Hintergrund

Die vorliegenden drei Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Hamburg betreffen die Auslegung des Unionsrechts im Hinblick auf den in der Rechtsprechung des EuGH als unionsrechtlichen Anspruch anerkannten Verzinsungsanspruch von Einzelpersonen. Sie beziehen sich auf drei verschiedene Sachverhalte, in denen es um Ansprüche auf Zahlung von Zinsen geht, im Zusammenhang mit erstens der verspäteten Auszahlung von Ausfuhrerstattungen für landwirtschaftliche Erzeugnisse und der Erstattung zu Unrecht festgesetzter finanzieller Sanktionen in Verbindung mit solchen Erstattungen (Rechtssache C‑415/20, Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost Produktions GmbH), zweitens der Verzinsung wegen Erstattung von Antidumpingzöllen ( Verfahren C‑419/20, F. Reyher) und drittens der Erstattung von rechtswidrig entrichteten Einfuhrzöllen ( C‑427/20, Flexi Montagetechnik). Der EuGH ist aufgerufen zu entscheiden, ob die Rechtsprechung zum unionsrechtlichen Zinsanspruch auch auf Einzelfallentscheidungen von Verwaltungsbehörden auszudehnen ist.

Mehr zu dem Vorlagebeschluss des Finanzgerichts in unserem Blogbeitrag vom 1.10.2020.

Entscheidung des EuGH

Die unionsrechtlichen Grundsätze über den Anspruch auf Erstattung von Geldbeträgen, zu deren Zahlung die Betroffenen von einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht herangezogen wurden, sowie auf Verzinsung dieser Beträge sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der, wenn die Zahlung von Ausfuhrerstattungen, einer finanziellen Sanktion, von Antidumpingzöllen oder von Einfuhrabgaben unter Verstoß gegen das Unionsrecht versagt bzw. eingefordert worden ist, die Zahlung von Zinsen unter Ausschluss des davor liegenden Zeitraums nur für denjenigen Zeitraum zu erfolgen hat, der zwischen dem Tag der Einlegung des gerichtlichen Rechtsbehelfs, mit dem die Zahlung eines dem Betreffenden versagten Geldbetrags bzw. die Erstattung eines von ihm entrichteten Geldbetrags begehrt wird, und dem Tag liegt, an dem das zuständige Gericht seine Entscheidung erlässt. Indes verbieten diese Grundsätze für sich genommen nicht, dass eine solche Regelung vorsieht, dass die Zahlung nur geschuldet wird, wenn ein solcher Rechtsbehelf eingelegt worden ist, sofern dies nicht dazu führt, dass die Ausübung der unionsrechtlichen Rechte der Verwaltungsunterworfenen übermäßig erschwert wird.

Hierzu gibt der EuGH folgende zusammenfassende Begründung:

Zunächst stellt der EuGH klar, dass nach dem allgemeinen Grundsatz der Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge jeder Bürger, dem eine nationale Behörde unter Verstoß gegen das Unionsrecht die Zahlung einer Steuer, Abgabe, Gebühr oder sonstigen Abgabe auferlegt hat, nach dem Unionsrecht einen Anspruch darauf hat, von dem betreffenden Mitgliedstaat die Erstattung des zu Unrecht erhobenen Geldbetrags sowie die Zahlung von Zinsen zu erhalten.

Diese Rechte gelten somit insbesondere in Bezug auf eine Geldstrafe, die von einer nationalen Behörde in Anwendung eines Rechtsakts des Unionsrechts oder von Bestimmungen des nationalen Rechts, die zur Durchführung, Umsetzung oder Durchsetzung eines solchen Rechtsakts erlassen wurden, zu Unrecht verhängt wurde. Daher hat der Betroffene Anspruch auf Erstattung einer solchen Geldstrafe sowie auf Zahlung von Zinsen. Diese Zinsen sind analog auch dann geschuldet, wenn Ausfuhrerstattungen unter Verstoß gegen das Unionsrecht verspätet an einen Verwaltungsbeamten gezahlt wurden.

Ein solcher Verstoß könne insbesondere dann vorliegen, so der EuGH, wenn eine nationale Behörde die Zahlung unter fehlerhafter Anwendung eines Unionsrechtsakts oder einer nationalen Regelung zur Durchführung oder Umsetzung eines solchen Rechtsakts durchgesetzt oder verweigert hat. Im Übrigen kann das Vorliegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht nicht nur vom Unionsrichter, sondern auch von einem nationalen Gericht festgestellt werden, unabhängig davon, ob dieses die Konsequenzen aus einer zuvor vom Unionsrichter getroffenen Feststellung der Rechtswidrigkeit oder Ungültigkeit ziehen oder feststellen soll, dass ein von einer nationalen Behörde erlassener Rechtsakt durch eine fehlerhafte Umsetzung des Unionsrechts fehlerhaft ist.

In Ermangelung einer EU-Regelung ist es Sache des nationalen Gesetzgebers, unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität die Modalitäten für die Zahlung von Zinsen bei der Rückzahlung von Geldbeträgen, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben oder verweigert wurden, vorzusehen. Insbesondere müssen solche Zinsen auch von einem Bürger für den Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt, zu dem der fragliche Geldbetrag an den betreffenden Mitgliedstaat gezahlt wurde oder dem Bürger hätte gewährt werden müssen, und dem Zeitpunkt der Erhebung einer gerichtlichen Klage auf Rückzahlung oder Gewährung dieser Geldbeträge beantragt und erlangt werden können.

Nach Ansicht des EuGH ist es nicht unbedingt ausgeschlossen, dass eine nationale Rechtsvorschrift vorsieht, dass Zinsen nur dann zu zahlen sind, wenn ein gerichtlicher Rechtsbehelf eingelegt wurde. Das nationale Gericht muss jedoch prüfen, ob diese Bedingung nicht dazu führt, dass die Ausübung der Rechte, die die Bürger aus dem Unionsrecht ableiten, übermäßig erschwert oder sogar unmöglich gemacht wird.

Anmerkung: Im Gegensatz zum Urteil ist eine ergänzende Kurzfassung auf der Webseite des EuGH derzeit nur in französischer Sprache veröffentlicht.

Fundstelle

EuGH, Urteil vom 28. April 2022 in den verbundenen Rechtssachen C‑415/20, C‑419/20 und C‑427/20.

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