EuGH: Nachweispflichten zur Erstattung von Kapitalertragsteuer bei "Streubesitzdividenden" nicht mit EU-Recht vereinbar

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass die deutsche Regelung, wonach die Erstattung der auf Streubesitzdividenden erhobenen Kapitalertragsteuer für ausländische Anteilseigner gegenüber inländischen Anteilseignern von zusätzlichen Nachweisen abhängig gemacht wird, gegen die in Artikel 63 AEUV verankerte Kapitalverkehrsfreiheit verstößt.

Hintergrund

Die Klägerin ist eine in Großbritannien ansässige Kapitalgesellschaft, die zu weniger als 6% an einer deutschen Tochtergesellschaft beteiligt war und von dieser eine Gewinnausschüttungen erhalten hatte, für die Kapitalertragsteuer (KESt) und Solidaritätszuschlag einbehalten und abgeführt wurden. Das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) gewährte der Klägerin - mangels Vorliegens des erforderlichen Nachweises - nur eine anteilige Erstattung der KESt unter Berücksichtigung des einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommens (DBA). Eine darüberhinausgehende Erstattung wurde seitens der Steuerbehörde abgelehnt, da die Klägerin die hierfür nach § 32 Abs. 5 Körperschaftsteuergesetz (KStG) erforderlichen Nachweise nicht erbracht habe. Der Fall wurde dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt.

In seinen Schlussanträgen vom 20. Januar 2022 hatte der Generalanwalt (GA) dem EuGH vorgeschlagen zu entscheiden, dass das materielle Erfordernis, dass die Kapitalertragsteuer nicht beim Gläubiger oder einem unmittelbar oder mittelbar am Gläubiger beteiligten Anteilseigner angerechnet oder als Betriebsausgabe oder als Werbungskosten abgezogen werden darf, damit sie dem Gläubiger erstattet werden kann, gegen die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) verstößt.

Mehr zu dem Vorlagefall und den Schlussanträgen in unserem Blogbeitrag vom 20. Januar 2022.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH folgte in seinem heutigen Urteil den Empfehlungen des GA und entschied in Beantwortung der ersten Vorlagefrage, dass der deutschen Regelung Artikel Art. 63 AEUV entgegensteht. Während gebietsansässige Gesellschaften in den Genuss einer sofortigen Anrechnung und gegebenenfalls einer Erstattung des Restbetrags der abgeführten Quellensteuer kommen, sind jedoch nach Auffassung des EuGH weder ein Abzug der Quellensteuer als Betriebsausgabe oder Werbungskosten noch eine Möglichkeit für die Dividenden beziehende Gesellschaft, einen Anrechnungsvortrag in Anspruch zu nehmen, geeignet, eine vollständige Neutralisierung dieser Ungleichbehandlung zu ermöglichen.

Diese Ungleichbehandlung könne nur dann hingenommen werden, wenn sie Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Beides verneinte der EuGH.

Aufgrund des Umstands, dass Deutschland sich dafür entschieden hat, seine Steuerhoheit für sämtliche Dividenden aus Streubesitzanteilen unabhängig davon auszuüben, ob sie an gebietsansässige Gesellschaften oder an gebietsfremde Gesellschaften ausgeschüttet werden, befinden sich diese beiden Kategorien von Gesellschaften, was die Gefahr einer wirtschaftlichen Doppelbesteuerung oder einer mehrfachen Belastung dieser Dividenden angeht, in einer vergleichbaren Situation.

Des Weiteren sieht der EuGH auch keinen Rechtfertigungsgrund im Hinblick auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses, konkret zur Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten. Im vorliegenden Fall habe sich Deutschland zwar dafür entschieden, seine Steuerhoheit für sämtliche Dividenden aus Streubesitzanteilen auszuüben. Allerdings habe Deutschland sich nach den gegenüber dem Gerichtshof gemachten Angaben auch dafür entschieden, die Belastung durch die Quellensteuer auf diese Dividenden vollständig zu neutralisieren, wenn sie an gebietsansässige Gesellschaften ausgeschüttet werden. Unter diesen Umständen könne die Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten eine Besteuerung von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Gesellschaften hinsichtlich dieser Art von Einkünften nicht rechtfertigen.

Zur Rechtfertigung, eine doppelten Berücksichtigung der Quellensteuer bei den in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Dividendenbeziehern zu verhindern, merkt der EuGH an, dass ein solches Ziel in kohärenter und systematischer Weise erreicht werden muss. Dies sei aber dann nicht der Fall, wenn eine Erstattung der Quellensteuer auf Dividenden aus Streubesitzanteilen bei in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Gesellschaften, die diese Dividenden beziehen, an strengere Voraussetzungen geknüpft wird als bei gebietsansässigen Gesellschaften, und das, obgleich eine doppelte Berücksichtigung der Quellensteuer bei gebietsansässigen Gesellschaften nicht ausgeschlossen werden kann.

In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage musste die zweite Vorlagefrage vom EuGH nicht mehr beantwortet werden.

Anmerkungen:

Durch das Urteil wurde keine Entscheidung für Drittstaatenfälle getroffen, denn UK war in den Streitjahren Mitgliedstaat der EU.

Der EuGH hat darüber hinaus auch nicht zu den verfahrensrechtlichen Nachweisanforderungen (§ 32 Abs. 2 Satz 3-5 KStG) entschieden, denn wenn die Erstattung der Kapitalertragsteuer materiell-rechtlich nicht davon abhängig gemacht werden darf, dass diese bei dem/den Anteilseigner(n) der Muttergesellschaft nicht angerechnet oder abgezogen wurde, ist es unerheblich, wie die Muttergesellschaft die Nichtanrechnung und den Nichtabzug nachweisen kann.

Fundstelle

EuGH, Urteil vom 16. Juni 2022 (C‑572/20), ACC Silicones

Eine englische Zusammenfassung dieser Entscheidung finden Sie hier.

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