EuGH zum Vorsteuerabzug: Kein automatischer Rechtsmissbrauch bei Insolvenz des Lieferanten

Der Europäische Gerichtshof hat in einem Fall aus Litauen entschieden, dass es gegen EU-Recht verstößt, wenn die dortige Behörde den Vorsteuerabzug wegen angeblichem Rechtsmissbrauch verweigert, weil der Verkäufer zum Zeitpunkt der Transaktion zahlungsunfähig ist. Zum einen ist die bloße Möglichkeit der Nichtzahlung einer Steuer noch kein Steuerbetrug, zum anderen werden damit Geschäfte mit Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten praktisch unmöglich gemacht.

Hintergrund

In dem litauischen Vorabentscheidungsersuchen ging es vor dem EuGH (wieder einmal) um die Auslegung der Begriffe „Mehrwertsteuerbetrug und Recht auf Vorsteuerabzug“. Oder wie es die Generalanwältin (GA) in der Einleitung zu ihren Schlussanträgen treffend auf den Punkt brachte: „Dabei könnte man an eine Passage des „Zauberlehrlings“ von Johann Wolfgang von Goethe denken: ‘Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister werd ich nun nicht los‘. Denn dieses Vorabentscheidungsverfahren zeigt erneut die Unsicherheiten und Probleme auf, die entstehen, wenn das Mehrwertsteuerrecht weniger klassisch verstanden, sondern in der Rechtsprechung auch zur Bekämpfung von Betrug und Missbrauch genutzt wird.“

Nach dieser Rechtsprechungslinie soll die Finanzverwaltung u. a. berechtigt oder gar verpflichtet sein, einem Mehrwertsteuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn dieser wusste oder hätte wissen müssen, dass ein Umsatz vor oder nach ihm in einer Leistungskette in einen Mehrwertsteuerbetrug involviert war oder dass der Steuerpflichtige wusste oder wissen musste, dass der Vertragspartner möglicherweise die von ihm geschuldete Mehrwertsteuer nicht bezahlen werde. Der aktuelle Fall aus Litauen gab dem EuGH erneut die Gelegenheit, die Grenzen seiner „Betrugsrechtsprechung“ aufzuzeigen.

Einem Unternehmen, das von seinem bei ihm hochverschuldeten Schuldner zur Deckung eines Teils der Schulden Gegenstände übernimmt, könnte immer vorgeworfen werden, dass es hätte wissen müssen, dass der Schuldner die entstandene Mehrwertsteuer aus dem Verkauf des Gegenstandes möglicherweise nicht abführen wird (bzw. werden kann). In Litauen scheint dies jedoch mittlerweile, so die GA, die ständige Praxis der Finanzverwaltung geworden zu sein. Dort wird der Erwerb von Gütern eines in finanziellen Schwierigkeiten befindlichen Unternehmens als rechtsmissbräuchlich bezeichnet und deswegen der Vorsteuerabzug versagt.

EuGH-Entscheidung

Der EuGH hat nun diese Regelung als nicht unionstauglich eingestuft:

Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der dem Käufer im Rahmen des Verkaufs eines Grundstücks zwischen Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug allein deshalb versagt wird, weil er wusste oder hätte wissen müssen, dass sich der Verkäufer in finanziellen Schwierigkeiten befand oder gar zahlungsunfähig war und dass dieser Umstand möglicherweise zur Folge hat, dass der Verkäufer die Mehrwertsteuer nicht an den Fiskus zahlen würde oder nicht würde zahlen können.

Fazit des Urteils:

Der EuGH trifft somit, auch über den entschiedenen Fall hinaus, folgende konkrete Feststellung:

Ein Steuerpflichtiger, der Schuldner einer vollstreckbaren Forderung ist und sich in finanziellen Schwierigkeiten befindet, der im Rahmen eines gesetzlich geregelten Zwangsversteigerungsverfahrens einen seiner Gegenstände verkauft, um seine Schulden zu tilgen, und dann die hierfür geschuldete Mehrwertsteuer erklärt, aber später wegen dieser Schwierigkeiten die Mehrwertsteuer ganz oder teilweise nicht entrichten kann, macht sich nicht schon aus diesem Grund eines Mehrwertsteuerbetrugs schuldig. Folglich kann dem Käufer eines solchen Gegenstands unter diesen Umständen erst recht nicht vorgeworfen werden, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit dem Erwerb dieses Gegenstands an einem Umsatz beteiligt war, der in einen Mehrwertsteuerbetrug verwickelt ist.

Fundstelle

EuGH-Urteil vom 15. September 2022 (C-227/21), HA.EN.

Eine englische Zusammenfassung dieses Urteils finden Sie hier.

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