Verhältnis zwischen Fusionskontrolle und Missbrauchskontrolle nach Art. 102 AEUV

Nach Ansicht der Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof kann ein Unternehmenszusammenschluss, der keiner fusionskontrollrechtlichen Vorabprüfung unterlag, nachträglich anhand des primärrechtlichen Verbots des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung überprüft werden. Wenn ein Zusammenschluss hingegen fusionskontrollrechtlich genehmigt wurde, sei eine weitere Überprüfung am Maßstab des Missbrauchsverbots grundsätzlich ausgeschlossen.

Vorlagefrage

Das Berufungsgericht Paris will vom EuGH im Wesentlichen wissen, ob es einer nationalen Wettbewerbsbehörde möglich ist, einen Zusammenschluss, der von einem Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung betrieben wurde, nachträglich am Maßstab des Art. 102 AEUV zu prüfen, wenn dieser Zusammenschluss die maßgeblichen umsatzbezogenen Aufgreifschwellenwerte der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 und des nationalen Fusionskontrollrechts nicht erreicht und daher keine entsprechende Ex-ante-Prüfung stattgefunden hat.

Im Ausgangsrechtsstreit geht es konkret um die Frage einer ergänzenden oder lückenfüllenden Anwendung von Art. 102 AEUV im Verhältnis zu den nationalen Regeln über die Fusionskontrolle. Die Vorlagefrage zielt im Kern darauf ab, zu klären, ob Art. 21 Abs. 1 der EG-Fusionskontrollverordnung (FKVO) bewirkt, dass Zusammenschlüsse ausschließlich am Maßstab des Fusionskontrollrechts zu prüfen sind und eine parallele oder nachträgliche Anwendung von Art. 102 AEUV ausgeschlossen ist (sogenannte „Sperrwirkung“). Um das Verhältnis dieser Regelungen zueinander näher zu bestimmen, müssen ihre jeweilige Rechtsnatur und Funktion im unionsrechtlichen System des Schutzes des Wettbewerbs im Binnenmarkt und dessen grundlegende Ziele in den Blick genommen werden.

Schlussanträge

Zusammenfassend bejaht Generalanwältin Juliane Kokott die Vorlagefrage. Die komplementäre Anwendung von Art. 102 AEUV sei geeignet, zum effektiven Schutz des Wettbewerbs im Binnenmarkt beizutragen, sofern wettbewerbsrechtlich problematische Zusammenschlüsse die fusionskontrollrechtlichen Schwellenwerte nicht erreichen und daher grundsätzlich keiner Vorabkontrolle unterliegen.

Weitere detaillierte Informationen dazu finden Sie in der Pressemitteilung Nr. 168/22 des Gerichtshofes der Europäischen Union, sowie den ausführlichen Schlussanträgen.

Fundstelle

EuGH, Schlussanträge vom 13. Januar 2022 in der Rechtssache C‑449/21, Towercast.

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