EuGH: Gesamtschuldnerische Haftung für Mehrwertsteuer juristischer Person

Der Europäische Gerichtshof hat bestätigt, dass die bulgarische Regelung zur automatischen gesamtschuldnerischen Haftung für Mehrwertsteuerschulden einer juristischen Person nicht gegen EU-Recht verstößt. Dies gilt zum Beispiel dann, wenn die gesamtschuldnerisch haftende Person der Geschäftsführer der juristischen Person ist.

Hintergrund und Sachverhalt

Im Fokus steht die bulgarische Regelung zur automatischen gesamtschuldnerischen Haftung nach Art. 19 Abs. 2 der nationalen Steuer- und Sozialversicherungsverfahrensordnung (Danachno-osiguritelen protsesualen kodeks – kurz: DOPK). Der Kläger hatte durch einen Dritten die Übertragung eines Betrags aus dem Vermögen der Gesellschaft (G) auf eine mit ihm verbundene natürliche Person angeordnet oder zumindest Kenntnis davon und dabei nach dem nationalen Recht unredlich gehandelt. Die Beträge seien auf ein Konto des Rechtsanwalts, mit dem die Gesellschaft einen Vertrag über Rechtsberatung geschlossen habe, überwiesen worden, und der Rechtsanwalt habe sie auf das Konto der Ehefrau des Klägers überwiesen, über welches der Kläger auch verfügen konnte. Wegen der Verringerung des Vermögens der Gesellschaft um die Höhe dieses Betrags wurden die Mehrwertsteuerschulden und auch die fälligen aufgelaufenen Zinsen darauf nicht gezahlt.

Konkret ist demnach das Bestreben des vorlegenden Gerichts zu erfahren, ob es unter unionsrechtliche Gegebenheiten (hier: Artikel 273 der MwStRL und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) zulässig ist, dass eine dritte nicht mehrwertsteuerpflichtige natürliche Person (der Kläger) wegen von G nicht entrichteter Mehrwertsteuer oder (und) nicht gezahlter Zinsen auf diese Steuer auf der Grundlage des Art. 19 Abs. 2 DOPK haftbar gemacht werden kann. - Diese Fragen unterstellen zunächst, dass eine solche Haftung eines Nichtsteuerpflichtigen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Wird daher eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, wäre der Gerichtshof auch nicht zuständig, um über sie zu entscheiden. In diesem Sinne hatte nämlich die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen dem Gericht empfohlen zu entscheiden, dass die allgemeine gesamtschuldnerische Haftung eines Organs einer Gesellschaft (Nichtsteuerpflichtiger im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie) wegen gesellschaftsschädlichen Verhaltens (hier: Gewährung eines Gehaltes in unangemessener Höhe), welches kausal für die Nichtbezahlung fälliger Steuerschulden der Gesellschaft ist, nicht Gegenstand der Mehrwertsteuerrichtlinie ist und nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.

Entscheidung des EuGH

Die drei Vorlagefragen beantwortete der EuGH (teilweise abweichend zur Einschätzung der GA) nachfolgend wie folgt:

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung für die Mehrwertsteuerschulden einer juristischen Person unter folgenden Umständen vorsieht:

- die gesamtschuldnerisch haftbar gemachte Person ist Geschäftsführer der juristischen Person oder Mitglied eines ihrer Leitungsorgane;

- die gesamtschuldnerisch haftbar gemachte Person hat unredlich Zahlungen aus dem Vermögen der juristischen Person geleistet, die als verdeckte Ausschüttung von Gewinn oder Dividenden eingestuft werden können, oder hat dieses Vermögen unentgeltlich oder zu Preisen übertragen, die erheblich niedriger als die Marktpreise sind;

- die unredlich vorgenommenen Handlungen haben bewirkt, dass die juristische Person nicht in der Lage ist, die von ihr geschuldete Mehrwertsteuer vollständig oder auch nur zum Teil abzuführen;

- die gesamtschuldnerische Haftung ist auf den Betrag beschränkt, um den das Vermögen der juristischen Person aufgrund der unredlich vorgenommenen Handlungen vermindert wurde, und

- diese gesamtschuldnerische Haftung wird nur hilfsweise ausgelöst, wenn es sich als unmöglich erweist, die von der juristischen Person geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge beizutreiben.

Der EuGH hat dies verneint, Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehen der geschilderten nationalen Regelung nicht entgegen (Rz. 68 bis Rz. 85 des Urteils). --- Der EuGH stellt hierzu fest, dass die betreffende gesamtschuldnerische Haftung zur Einziehung von Mehrwertsteuerbeträgen beiträgt, die von einer steuerpflichtigen juristischen Person nicht innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt worden sind. Insofern stelle dies im Sinne von Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicher und trage dazu bei, Steuerhinterziehung zu vermeiden. Folglich falle eine solche Regelung grundsätzlich in den Beurteilungsspielraum, über den die Mitgliedstaaten im Rahmen der Durchführung von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie verfügen. – Ebenso gehe diese automatische Haftungsinanspruchnahme nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden.

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die in der ersten Frage beschriebene vorsieht, die sich auf die Verzugszinsen erstreckt, die von der juristischen Person geschuldet werden, weil die Mehrwertsteuer nicht innerhalb der durch die Bestimmungen dieser Richtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt wurde. --- Auch hierzu merkt der EuGH an, dass das Unionsrecht der geschilderten nationalen Regelung nicht entgegensteht, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die in der ersten Frage beschriebene vorsieht, die sich auf die Verzugszinsen erstreckt, die von der juristischen Person geschuldet werden. (Rz. 86 bis Rz. 96).

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine automatische gesamtschuldnerische Haftung wie die in der ersten Frage beschriebene vorsieht, die sich auf die Verzugszinsen erstreckt, die von der juristischen Person geschuldet werden, weil die Mehrwertsteuer nicht innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen abgeführt wurde, wenn die verspätete Zahlung nicht auf das Verhalten der gesamtschuldnerisch haftbar gemachten Person, sondern auf das Verhalten einer anderen Person oder das Vorliegen objektiver Umstände zurückzuführen ist.

Der EuGH sieht hier die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits, weshalb die dritte Vorlagefrage unzulässig ist. Im vorliegenden Fall kommt die automatische gesamtschuldnerische Haftung nach Art. 19 Abs. 2 DOPK nur zur Anwendung, wenn die Unfähigkeit der juristischen Person, ihre öffentlich-rechtlichen Schulden ganz oder teilweise zu begleichen, durch Handlungen verursacht wurde, die von der gesamtschuldnerisch haftbar gemachten Person unredlich vorgenommen wurden. Folglich könne diese Regelung von vornherein nicht greifen, wenn die Nichtabführung der Mehrwertsteuer innerhalb der durch die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie festgelegten zwingenden Fristen auf das Verhalten einer anderen Person oder auf das Vorliegen objektiver Umstände zurückzuführen ist (Rz. 97 bis Rz. 101).

Fundstelle

EuGH, Urteil vom 13. Oktober 2022 (C‑1/21), Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“.

Anmerkung: Das deutsche Rechtsverständnis für diese oder ähnliche Fälle findet sich in § 69 Abgabenordnung (AO), der bestimmt, dass gesetzliche Vertreter natürlicher und juristischer Personen und die Geschäftsführer von nicht rechtsfähigen Personenvereinigungen und Vermögensmassen sowie Verfügungsberechtigte, die im eigenen oder fremden Namen auftreten, haften, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt oder soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden. Die Haftung umfasst auch die infolge der Pflichtverletzung zu zahlenden Säumniszuschläge.

Eine englische Zusammenfassung dieses Urteils finden Sie hier.

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