Update: EuGH erklärt Beihilfebeschluss der Kommission zu „tax rulings“ in Luxemburg für nichtig

In seinem heutigen Urteil in zwei verbundenen Rechtssachen erklärt der Europäische Gerichtshof die „advance tax rulings“ der luxemburgischen Steuerbehörde für rechtens, erklärt den streitigen Beschluss der EU-Kommission zum unionsrechtswidrigen Beihilfecharakter der Maßnahme für nichtig und hat das vorherige, die Auffassung der Kommission bestätigende, Urteil des Europäischen Gerichts aufgehoben. Dessen Prüfung des Bezugssystems und damit der Frage, ob ein selektiver Vorteil vorliegt, sei fehlerhaft.

Hintergrund

Die sogenannte „tax ruling“, die „verbindliche Steuerauskunft“, ist eine Praxis, die es Unternehmen ermöglicht, bei der Steuerverwaltung einen „Vorbescheid“ über die von ihnen zu entrichtende Steuer zu beantragen. Die EU-Kommission hatte ab 2014/2015 eine Reihe von Untersuchungen eingeleitet, mit denen überprüft werden soll, ob die Praktiken der Steuerbehörden mehrerer Mitgliedstaaten gegenüber multinationalen Unternehmen mit den Vertragsbestimmungen über staatliche Beihilfen vereinbar sind.

Die beiden aktuellen Verfahren vor dem EuGH betreffen die Steuervorbescheide der luxemburgischen Steuerbehörden gegenüber Fiat Chrysler Finance Europe (C-885/19 P) und Irland (C-898/19 P). Der Ansatz der Kommission hat u. a. darin bestanden, den Fremdvergleichsgrundsatz in die Prüfung des Vorliegens eines wirtschaftlichen Vorteils aufzunehmen. Daher stand auch die Frage nach der Notwendigkeit im Raum, die Auswirkungen eines Steuervorbescheids auf die betreffende Unternehmensgruppe insgesamt zu berücksichtigen, um zu überprüfen, ob ein Vorteil im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt oder nicht.

Das Europäische Gericht (EuG) hatte beide Rechtssachen verbunden und mit Urteil vom 24.9.2019 die damalige EU-Kommissions-Entscheidung (EU) 2016/2326 vom 21. Oktober 2015 bestätigt, wonach die betreffenden tax rulings aufgrund ihres selektiven Charakters eine unionsrechtswidrige staatliche Beihilfe darstellen. Hiergegen reichten die betroffenen Parteien Rechtsmittel beim EuGH ein und beantragten die Aufhebung dieses Urteils.

Entscheidung des EuGH

Der EuGH erklärte den streitigen Beschluss der Kommission für nichtig und entschied in seinem heutigen Urteil in den beiden verbundenen Rechtssachen, dass das EuG zu Unrecht den Bezugsrahmen bestätigt hat, den die Kommission im Zusammenhang mit der Anwendung des Fremdvergleichsgrundsatzes auf integrierte Unternehmen in Luxemburg heranzog, weil dabei die spezifischen Vorschriften, mit denen dieser Grundsatz in Luxemburg umgesetzt wird, nicht berücksichtigt wurden.

In seinem Urteil weist der EuGH darauf hin, dass eine nationale Maßnahme nur dann als „staatliche Beihilfe“ eingestuft werden kann, wenn vier Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss es sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. Zweitens muss die Maßnahme geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein selektiver Vorteil verschafft werden und viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen.

Bei der Bestimmung des Bezugssystems im Bereich der direkten Steuern sei - so der EuGH - nur das im betreffenden Mitgliedstaat anwendbare nationale Recht zu berücksichtigen. Diese Bestimmung ist wiederum eine unerlässliche Voraussetzung für die Beurteilung nicht nur der Frage, ob ein Vorteil vorliegt, sondern auch der Frage, ob dieser selektiv ist. Das EuG hatte sich nämlich auf Vorschriften berufen, die nicht zum luxemburgischen Recht gehörten.

Das Europäische Gericht habe Art. 107 Abs. 1 AEUV rechtsfehlerhaft angewandt, weil es die sich aus der Rechtsprechung ergebende Anforderung nicht berücksichtigt hat, nämlich dass die Kommission für die Feststellung, ob eine steuerliche Maßnahme einem Unternehmen einen selektiven Vorteil verschafft hat, nach einer objektiven Prüfung des Inhalts, des Aufbaus und der konkreten Wirkungen der nach dem nationalen Recht dieses Staates anwendbaren Vorschriften einen Vergleich mit dem im betreffenden Mitgliedstaat normalerweise geltenden Steuersystem vorzunehmen hat. Denn das Gericht hat zu Unrecht die Vorgehensweise der Kommission gebilligt, die einen anderen Fremdvergleichsgrundsatz angewandt hat als den im luxemburgischen Recht festgelegten, indem sie sich darauf beschränkt hat, den Grundsatz danach zu bestimmen, wie er in der Zielsetzung des allgemeinen luxemburgischen Körperschaftsteuersystems abstrakt zum Ausdruck kommt, und den fraglichen Steuervorbescheid geprüft hat, ohne die Art und Weise zu berücksichtigen, in der dieser Grundsatz insbesondere in Bezug auf integrierte Unternehmen im nationalen Recht konkret verankert ist.

Anmerkung:

Dies dürfte ein äußerst wichtiges Urteil sein, da sich der Europäische Gerichtshof erkennbar zum ersten Mal mit den wesentlichen Argumenten in den jüngsten Beihilfefällen betreffend Verrechnungspreisentscheidungen befasst. Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen dieses Urteil auf die anderen laufenden Verfahren und Untersuchungen zu staatlichen Beihilfen und steuerlichen Maßnahmen haben wird.

Fundstelle

EuGH, Urteil vom 8. November 2022 in den verbundenen Rechtssachen C-898/19 P Irland/ Kommission u.a. und C-885/19 P Fiat Chrysler Finance Europe/ Kommission.

Ausführliche Informationen zum Urteil finden Sie auch in der Pressemitteilung Nr. 178/22 des EuGH.

Update (12. April 2024)

In ihren Schlussanträgen zu den verbundenen Rechtssachen (C-555/22 P, C-556/22 P und C-564/22 P Vereinigtes Königreich u. a./Kommission) schlägt Generalanwältin Medina dem EuGH vor, den Beschluss der Kommission, mit dem festgestellt wurde, dass das Vereinigte Königreich von 2013 bis 2018 rechtswidrige Steuervorbescheide für bestimmte multinationale Konzerne (tax rulings) gewährt hat, für nichtig zu erklären. Weitere Informationen hierzu in der Pressemitteilung Nr. 64/2 des EuGH vom 11. April 2024).

 

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