Entstrickung durch Überführung von Wirtschaftsgütern in ausländische Betriebsstätte - verfassungsrechtliches Vertrauensschutzgebot bei rückwirkenden Gesetzen
Die nach Maßgabe der Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze der Finanzverwaltung (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 24.12.1999, BStBl I 1999, 1076) praktizierte Entstrickungsbesteuerung durch Auflösung der zum Überführungszeitpunkt in dem Wirtschaftsgut ruhenden stillen Reserven bei gleichzeitiger Neutralisierung durch Bildung eines Merkpostens, der in gleichen Jahresraten über einen Zeitraum von zehn Jahren gewinnerhöhend aufgelöst wird, verstößt nicht gegen die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit (Anschluss an Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Verder LabTec vom 21.05.2015 - C-657/13, EU:C:2015:331). Dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) in einem aktuellen Urteil entschieden.
Sachverhalt
Die Klägerin zu 1. und die Rechtsvorgängerin der Klägerin zu 2. (Klägerin zu 2.) sind jeweils Gesellschaften in der Rechtsform der Besloten Vennootschap (B.V.) mit Sitz im Königreich der Niederlande (Niederlande). Sie waren im Jahr 2005 (Streitjahr) zu jeweils 50 % als Kommanditistinnen an einer inländischen GmbH & Co. KG (V-KG) beteiligt, der ursprünglichen Klägerin in diesem Verfahren. Mit gleichen Beteiligungsquoten waren die Klägerin zu 1. und die Rechtsvorgängerin der Klägerin zu 2. (B-BV) zugleich Kommanditistinnen einer weiteren GmbH & Co. KG (C-KG).
Mit Vertrag vom 25.05.2005 entnahmen die Klägerin zu 1. und die B-BV sämtliche Patent-, Marken-, und Gebrauchsmusterrechte einschließlich ‑‑aber nicht auf diese beschränkt‑‑ der Rechte am geistigen Eigentum aus der C-KG und legten die Rechte am geistigen Eigentum gegen Teil-Barzahlungen in die V-KG ein.
Die V-KG mietete ab Juni 2005 Räumlichkeiten in X (Niederlande) an. Unter der dortigen Adresse wurde am 21.10.2005 in dem niederländischen Handelsregister die Gründung einer Betriebsstätte der V-KG eingetragen. Als Tag der Gründung ist der 26.05.2005 angegeben.
m Anschluss an eine Außenprüfung ging das Finanzamt davon aus, die Überführung der Rechte am geistigen Eigentum in die Niederlande stelle eine Entnahme dar, die zur Aufdeckung der stillen Reserven bei der V-KG geführt habe. Der zwischen den Beteiligten ‑‑auf der Grundlage des Fremdvergleichswerts im Zeitpunkt der Überführung‑‑ übereinstimmend ermittelte Wert der stillen Reserven sei nach Maßgabe der Grundsätze der Finanzverwaltung für die Prüfung der Aufteilung der Einkünfte bei Betriebsstätten international tätiger Unternehmen (BMF, Schreiben vom 24.12.1999 ‑‑Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze‑‑, BStBl I 1999, 1076, Tz. 2.6.1) aus Billigkeitsgründen durch einen Merkposten in gleicher Höhe zu neutralisieren; dieser Merkposten sei sodann in gleichen Jahresraten über einen Zeitraum von zehn Jahren gewinnerhöhend aufzulösen. Unter dem 17.08.2009 erließ das Finanzamt einen entsprechend geänderten Feststellungsbescheid für die V-KG für 2005.
In dem anschließenden Klageverfahren hat das Finanzgericht Düsseldorf mit Beschluss vom 05.12.2013 - 8 K 3664/11 F (Entscheidungen der Finanzgerichte ‑‑EFG‑‑ 2014, 119) ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gerichtet, über das der EuGH mit Urteil Verder LabTec vom 21.05.2015 - C-657/13 (EU:C:2015:331, Internationales Steuerrecht 2015, 440) entschieden hat.
Die Klage vor dem Finanzgericht Düsseldorf hatte anschließend keinen Erfolg.
Entscheidung des BFH
Der BFH hat der Revision stattgegeben, die Entscheidung der Vorinstanz aufgehoben und zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht zurückverwiesen.
Wird ein bisher einer inländischen Betriebsstätte zuzuordnendes Wirtschaftsgut in eine ausländische Betriebsstätte überführt, löst dies gemäß § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG i.d.F. JStG 2010 die Rechtsfolgen der Entnahmefiktion des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG aus.
Die Überführung der Rechte am geistigen Eigentum an den gewerblichen Schutzrechten in die in den Niederlanden belegene Betriebsstätte der V-KG erfüllt den Tatbestand des § 4 Abs. 1 Satz 4 (i.V.m. Satz 3) EStG i.d.F. des JStG 2010 und ist daher einer nach § 4 Abs. 1 Satz 2 EStG gewinnerhöhenden Entnahme zu betriebsfremden Zwecken gleichzustellen.
§ 52 Abs. 8b Satz 2 EStG i.d.F. des JStG 2010 ordnet die Geltung des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG i.d.F. des SEStEG für Wirtschaftsjahre, die vor dem 01.01.2006 enden, für Fälle an, in denen ein bisher einer inländischen Betriebsstätte eines unbeschränkt Steuerpflichtigen zuzuordnendes Wirtschaftsgut einer ausländischen Betriebsstätte dieses Steuerpflichtigen zuzuordnen ist, deren Einkünfte durch ein DBA freigestellt sind (Variante 1) oder wenn das Wirtschaftsgut bei einem beschränkt Steuerpflichtigen nicht mehr einer inländischen Betriebsstätte zuzuordnen ist (Variante 2). § 4 Abs. 1 Satz 4 EStG i.d.F. des JStG 2010 gilt in allen Fällen, in denen § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG i.d.F. des SEStEG anzuwenden ist (§ 52 Abs. 8b Satz 3 EStG i.d.F. des JStG 2010).
Für den Streitfall führt § 52 Abs. 8b Satz 2 Variante 1 i.V.m. Satz 3 EStG i.d.F. des JStG 2010 zur rückwirkenden Geltung des § 4 Abs. 1 Satz 4 (i.V.m. Satz 3) EStG i.d.F. des JStG 2010, weil die Einkünfte der niederländischen Betriebsstätte der V-KG im Streitjahr gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 5 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959/2004 von der Besteuerung durch Deutschland freigestellt waren.
Die durch § 52 Abs. 8b Satz 2 Variante 1 i.V.m. Satz 3 EStG i.d.F. des JStG 2010 angeordnete ("echte") Rückwirkung des § 4 Abs. 1 Satz 4 (i.V.m. Satz 3) EStG i.d.F. des JStG 2010 für vor dem 01.01.2006 endende Wirtschaftsjahre verstößt für den Fall der Überführung eines Wirtschaftsguts in eine ausländische Betriebsstätte, deren Einkünfte nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland von der Besteuerung freigestellt sind, nicht gegen das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzgebot.
Die nach Maßgabe der Betriebsstätten-Verwaltungsgrundsätze der Finanzverwaltung (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 24.12.1999, BStBl I 1999, 1076) praktizierte Entstrickungsbesteuerung durch Auflösung der zum Überführungszeitpunkt in dem Wirtschaftsgut ruhenden stillen Reserven bei gleichzeitiger Neutralisierung durch Bildung eines Merkpostens, der in gleichen Jahresraten über einen Zeitraum von zehn Jahren gewinnerhöhend aufgelöst wird, verstößt nicht gegen die unionsrechtliche Niederlassungsfreiheit (Anschluss an Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Verder LabTec vom 21.05.2015 - C-657/13, EU:C:2015:331).
Das Finanzgericht hat rechtsfehlerhaft angenommen, die Entnahme sei mit dem Fremdvergleichswert anzusetzen. Zwar ist durch das SEStEG § 6 Abs. 1 Nr. 4 EStG dahingehend geändert worden, dass in den Fällen des § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG die Entnahmen ‑‑abweichend von dem sonst geltenden Ansatz des Teilwerts‑‑ mit dem gemeinen Wert anzusetzen sind. Die geänderte Gesetzesfassung ist jedoch gemäß § 52 Abs. 16 Satz 1 EStG i.d.F. des SEStEG erstmals für nach dem 31.12.2005 endende Wirtschaftsjahre anzuwenden, so dass für den Streitfall der Ansatz des Teilwerts maßgeblich bleibt.
Fundstelle
BFH, Urteil vom 26. März 2025 (I R 5/24 (I R 99/15)), veröffentlicht am 31. Juli 2025.