Strommarkt 2.0: Was lässt die GroKo 2025 von dem Plan der GroKo 2013 übrig? (Teil 1)
10 Jahre nach der politischen Einigung über den „Strommarkts 2.0“ macht der Koalitionsvertrag deutlich: Die Marktgläubigkeit der Politik ist zurückgegangen. Sind die stattdessen geplanten staatlichen Maßnahmen zu Ende gedacht?
Fast 10 Jahre ist es her, dass sich die damalige Große Koalition zum „Strommarkt 2.0“ unter dem Motto „Mehr Wettbewerb und mehr Verantwortung“ bekannt hat. In ihrer Eckpunktevereinbarung vom 1. Juli 2015 betonten die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD die Bedeutung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs für die Energiewende und die Bewältigung der Erzeugungsschwankungen der erneuerbaren Energien (EE).
Unverzerrter Wettbewerb als Ziel des Strommarkts 2.0 im Jahr 2015
Die Parteien sahen insbesondere die konsequente Inpflichtnahme der Stromversorger und -händler – in ihren Rollen als Bilanzkreisverantwortliche – als entscheidend an, um Versorgungslücken zu vermeiden und eine verlässliche Grundlage für Investitionen zu schaffen. Unverzerrte Preissignale sollten dafür sorgen, dass Erzeugungs- und Nachfrageseite in einem fairen Wettbewerb treten und um die besten und kostengünstigsten Lösungen konkurrieren. Die Koalition beschloss damals, die freie Preisbildung im Gesetz zu garantieren.
Anstelle des damals bereits intensiv diskutierten Kapazitätsmarkts entschied man sich für eine Kapazitätsreserve: Diese sollte außerhalb des Strommarktes betrieben werden und nur im Notfall zum Einsatz kommen, um den Wettbewerb und die Preisbildung nicht zu verzerren.
Große Koalition setzt heute auf staatliche Eingriffe in den Strommarkt
Ein Vergleich mit dem aktuellen Koalitionsvertrag zeigt, wie stark sich die politische Herangehensweise in Bezug auf den Kraftwerks- und Flexibilitätsmarkt in 10 Jahren Energiewende verändert hat. Die Überzeugung der Politik, dass der Markt die Lösung für den richtigen Mix an Kraftwerkskapazitäten, Stromspeicherung und flexiblem Verbrauch findet, erscheint überholt. Im Fokus der Regierungsparteien stehen nunmehr Eingriffe in den Markt. Statt auf die Wirkung einheitlicher Preissignale setzt die Koalition auf staatliche Maßnahmen wie großvolumige Kapazitätsausschreibungen, gesetzliche Investitionsanreize, regionale Steuerungsansätze sowie die Ausweisung von Engpassgebieten.
Die Große Koalition geht damit über die bisherigen Planungen hinaus. Die Kraftwerksstrategie der Vorgängerregierung plante zuletzt mit einer auszuschreibenden Gesamtkapazität von lediglich 12,5 GW. Die Ausschreibung sollte nach Abstimmung mit der Europäischen Kommission auf Gaskraftwerke beschränkt sein, welche mit Wasserstoff betrieben werden oder hierauf umrüstbar sind. Nunmehr ist eine geförderte „technologieoffene“ Gaskraftwerksleistung von 20 GW vorgesehen, die bis 2030 zugebaut werden soll – das sind etwa 40 Kraftwerksblöcke. Mittelfristig ist zudem ein Kapazitätsmechanismus geplant, der das bisherige Energy-only Marktdesign ersetzen soll.
Parteien treibt Sorge um Netzengpässe
Die vorrangige Sorge der Politik gilt dabei nicht mehr der Verzerrung von Marktsignalen, sondern den Netzengpässen. An acht Stellen des Koalitionsvertrags wird der Vorbehalt einer System- bzw. Netzdienlichkeit genannt, unter dem neue Erzeugungs- und Speicheranlagen stehen sollen. Der Glaube, dass die Engpässe nur temporärer Natur sind und in absehbarer Zeit durch einen konsequenten Netzausbau vollständig beseitigt werden können, scheint der Vergangenheit anzugehören.
Das Ziel eines einheitlichen Marktes, der zur Umsetzung der kostengünstigsten Investitionen führt, verliert damit an Bedeutung. Zwar hält die Koalition an der einheitlichen Preiszone Deutschland-Luxemburg fest. Die Regierungsparteien wollen es allerdings nicht mehr den Investoren überlassen, wo die neuen Anlagen entstehen. Beim Bau neuer Stromspeicher und großer EE-Anlagen soll ein Anreiz für einen Standort geschaffen werden, an welchem der Betrieb der Anlage „dem Netz nützt“. Gaskraftwerke sollen deutschlandweit vorrangig an bestehenden Kraftwerksstandorten entstehen und nicht allein nach dem (zentralen) Marktpreis, sondern auch nach „regionalen Bedarfen“ gesteuert werden.
Gleichzeitig verliert die Sorge vor Marktverzerrungen bei den Regierungsparteien an Gewicht. Das Prinzip, dass geförderte Reservekraftwerke grundsätzlich keinen Strom am Markt verkaufen dürfen, ist passé. Der Koalitionsvertrag sieht ausdrücklich vor, dass die Reserve auch zur Stabilisierung des Strompreises zum Einsatz kommen soll.
Entwicklungen der letzten Jahre führten zu Paradigmenwechsel
Der politische Paradigmenwechsel spiegelt die beobachteten Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Energiewende wider. Neben dem ansteigenden Bedarf von Redispatch-Eingriffen sind dies die anhaltenden Verzögerungen des Netzausbaus und dessen steigenden Kosten sowie die Investitionszurückhaltung bei neuen Gaskraftwerken, während der 2020 beschlossene Kohleausstieg voranschreitet.
Es gibt damit gute Gründe für die neue Bundesregierung, über das Konzept freier Märkte und eines effizienten Regulierungsrahmens hinauszugehen. Es ist in den vergangenen Jahren deutlich geworden, dass der Energiemarkt 2.0 kaum in der Lage sein wird, flexible Assets mit sehr volatilen Cashflows und neue Technologien wie Wasserstoff zu finanzieren. Offen bleibt auch die Koordination des Kapazitätsausbaus von erneuerbaren Erzeugungsanlagen, Stromspeichern und flexiblen Lasten sowie der Stromnetze im Gesamtsystem [siehe dazu auch den PwC Beitrag im Band 18 (2025) der Kuratoriumsschrift des Forums für Zukunftsenergien].
Allerdings bleibt die Frage, ob die aktuell von der Koalition geplanten Maßnahmen und ihre Auswirkungen auf den Markt zu Ende gedacht sind. Offensichtlich erhält das Spannungsverhältnis zwischen Strommarkteffizienz und staatlichen Eingriffen weniger Aufmerksamkeit als früher. Die Kernthese des Strommarkts 2.0, dass Preisspitzen notwendig sind, um die Kosten konventioneller Kraftwerke zu decken, wird im Koalitionsvertrag – mit nur einem Satz – im Ergebnis aufgegeben: Wenn Reservekraftwerke zur Preisstabilisierung eingesetzt werden, sind die Großhandelspreise praktisch gedeckelt. Wurde dabei bedacht, dass die so eingesetzten Reservekraftwerke andere Kraftwerke verdrängen können und dies kurzfristig zu weiteren Stilllegungen von Erzeugungskapazitäten führen kann? Und dass benötigte Investitionen in Stromspeicher ohne zu erwartende Preisspitzen zurückgehen könnten?
Noch grundlegender stellt sich die Frage, ob bei der Umsetzung des Koalitionsvertrages die Effizienz des Strommarktes für Entscheidungen über Investitionen und Betriebsfortsetzungen erhalten werden kann. Ist es möglich, derart weitgehende Maßnahmen im Rahmen des bestehenden Marktdesigns umzusetzen, ohne dass es zu Verwerfungen kommt? Oder können derart gravierende Änderungen nur sinnvoll in den geplanten Kapazitätsmarkt integriert werden?
Diese Fragen wird die Bundesregierung der EU-Kommission zu beantworten haben. Brüssel wird über die Vereinbarkeit der Pläne mit dem Unionsrecht zu entscheiden haben, d.h. den Vorgaben für den Strombinnenmarkt und dem Beihilferecht. Mit dem rechtlichen Rahmen für die Umsetzung der Koalitionspläne befasst sich der zweite Teil dieses Artikels.
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Peter Mussaeus
Partner, Leiter Energierecht
Düsseldorf