EuGH zur umsatzsteuerlichen Behandlung von Gutachtertätigkeiten im Auftrag des MDK
Ist die Tätigkeit einer Krankenschwester, die im Auftrag des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Patienten erstellt, eine Tätigkeit, die nach Unionsrecht von der Mehrwertsteuerpflicht befreit ist? Der BFH hatte im April 2019 den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um entsprechende Vorabentscheidung gebeten. Die Luxemburger Richter haben nun im konkreten Vorlagefall entschieden, dass Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG einer nationalen Versagung der Steuerfreiheit nicht entgegensteht, weil die als Subunternehmer tätige Krankenschwester nicht als anerkannte Einrichtung mit sozialem Charakter tätig ist.
Sachverhalt und Ausgangslage
A ist ausgebildete Krankenschwester mit medizinischer Grundausbildung und akademischer Ausbildung im Bereich der Pflegewissenschaft. In den Streitjahren 2012 bis 2014 erstellte sie für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Patienten. Das Finanzamt vertrat die Auffassung, die Gutachtertätigkeit sei weder nach nationalem noch nach Unionsrecht umsatzsteuerfrei. Das Finanzgericht hatte der entsprechenden Klage mit der Begründung stattgegeben, die Erstellung von Pflegegutachten sei nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g Mehrwertsteuerrichtlinie als "eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistung" steuerfrei. Gegen dieses Urteil legte das Finanzamt Revision ein. Der BFH hat das Revisionsverfahren mit Beschluss vom 10. April 2019 (XI R 11/17) ausgesetzt und die Problematik dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Unstreitig ist für den BFH, dass die Voraussetzungen einer Steuerfreiheit nach nationalem Recht nicht erfüllt sind. Weder liege eine steuerfreie Heilbehandlung i.S. von § 4 Nr. 14 UStG vor, noch handele es sich um Leistungen zur Betreuung oder Pflege von Personen gemäß § 4 Nr. 16 UStG. Auch § 4 Nr. 15 und Nr. 15a UStG komme nicht zum Zug. Denn danach sind nur die Umsätze der darin genannten Einrichtungen (z.B. der Sozialversicherungsträger bzw. des MDK) steuerfrei.
Urteil des EuGH
Die zwei relevanten Vorlagefragen des BFH beantwortete der EuGH wie folgt:
Die durch einen unabhängigen Gutachter im Auftrag des Medizinischen Dienstes einer Pflegekasse erfolgende Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit, die von dieser Pflegekasse zur Ermittlung des Umfangs etwaiger Ansprüche ihrer Versicherten auf Leistungen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verwendet werden, stellt eine eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistung im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g Mehrwertsteuerrichtlinie dar. Aus dem Wortlaut in Abs. 1 Buchst. dieser Vorschrift ergebe sich keinerlei Bedingung hinsichtlich des Empfängers der steuerbefreiten Umsätze, sondern das Wesen dieser Umsätze und die Eigenschaft des Wirtschaftsteilnehmers, der die fraglichen Dienstleistungen erbringt bzw. die fraglichen Gegenstände liefert, seien das entscheidende Kriterium.
Keine Anerkennung der Subunternehmerin A als soziale Einrichtung: Die in diesem Falle sich ergebende zweite Frage des BFH, inwieweit es für die Anerkennung eines Unternehmers als eine Einrichtung mit sozialem Charakter ausreicht, dass dieser als Subunternehmer seine Leistungen im Auftrag einer nach nationalem Recht anerkannten sozialen Einrichtung erbringt, hat der EuGH jedoch grundsätzlich verneint. Denn: Im vorliegenden Fall habe die A ihre Dienstleistungen zwar als Subunternehmerin des MDK erbracht, der nach deutschem Recht als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt ist, doch ist sie selbst nicht in diese Anerkennung einbezogen worden.
Unionsrechtlich sei es nicht zu beanstanden, dass A die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter verwehrt wird, auch wenn u.a. die Kosten der Erstellung dieser Gutachten indirekt und pauschal von der betreffenden Pflegekasse getragen werden. Ein Gutachter habe nach deutschem Recht die Möglichkeit, unmittelbar mit dieser Kasse einen Vertrag über die Erstellung der Gutachten zu schließen, um in den Genuss dieser Anerkennung zu gelangen. Davon habe die A aber keinen Gebrauch gemacht.
Kein Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität: Vorbehaltlich der Überprüfung durch den BFH verstoße die Versagung einer solchen Anerkennung im vorliegenden Fall auch nicht gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität. Die Mitgliedstaaten haben bei der Frage der Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter ein gewisses Ermessen. Nur wenn sie die Grenzen dieses Ermessens nicht eingehalten haben, kann sich ein Steuerpflichtiger auf die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g vorgesehene Steuerbefreiung berufen. In einem solchen Fall sei es in jedem Fall aber Sache des nationalen Gerichts, anhand aller maßgeblichen Umstände zu bestimmen, ob der Steuerpflichtige eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung im Sinne dieser Bestimmung ist.
Fundstelle
EuGH-Urteil vom 8. Oktober 2020 (C‑657/19), Finanzamt D