Update: Die Besteuerung von Streubesitzdividenden ist verfassungsgemäß
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in einem aktuellen Urteil entschieden, dass § 8b Abs. 4 KStG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom 20.10.2011 in der Rechtssache C-284/09 vom 21.03.2013 sowie § 9 Nr. 2a GewStG i.d.F. des UntStRefG 2008 vom 14.08.2007 mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sind.
Sachverhalt
Die Klägerin war im Streitjahr 2013 an einer inländischen Kapitalgesellschaft (einer Aktiengesellschaft) zu weniger als 10 % beteiligt.
Das Finanzamt unterwarf die Dividenden, die die Klägerin aus dieser Beteiligung erzielte, in vollem Umfang der Besteuerung.
Die Klägerin vertrat hingegen die Auffassung, dass die von ihr erzielten Dividendeneinnahmen gemäß § 8b Abs. 1, Abs. 5 des Körperschaftsteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (KStG) zu 95 % bei der Ermittlung des Einkommens für die Festsetzung der Körperschaftsteuer wie für die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags außer Ansatz zu lassen seien. Die gegenteilige Ansicht des Finanzamts sei rechtswidrig, weil § 8b Abs. 4 KStG, § 9 Nr. 2a des Gewerbesteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung (GewStG) gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verstießen.
Die Klage vor dem Finanzgericht Hamburg blieb jedoch ohne Erfolg.
Entscheidung des BFH
Der BFH hat sich der Entscheidung der Vorinstanz im Ergebnis angeschlossen und die Revision als unbegründet zurückgewiesen.
§ 8b Abs. 4 KStG durchbricht im Sinne einer nicht folgerichtigen Ausgestaltung die in § 8b Abs. 1 KStG zum Ausdruck kommende Grundentscheidung des Gesetzgebers, im System des Halb- bzw. Teileinkünfteverfahrens erwirtschaftete Gewinne nur einmal bei der erwirtschaftenden Körperschaft mit Körperschaftsteuer und erst bei der Ausschüttung an natürliche Personen als Anteilseigner mit Einkommensteuer zu besteuern und deswegen zur Vermeidung von Kumulations- oder Kaskadeneffekten in Beteiligungsketten Bezüge innerhalb gesellschaftlicher Beteiligungsstrukturen bei der Ermittlung des Einkommens außer Ansatz zu lassen.
Diese Durchbrechung ist nach der Überzeugung des BFH jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
Die Herstellung einer europarechtskonformen Rechtslage zur Abgrenzung der Besteuerungshoheiten der betroffenen Fisci ist als hinreichender Rechtfertigungsgrund im Sinne eines qualifizierten Fiskalzwecks anzusehen, auch wenn im Gesetzgebungsverfahren die Frage der Haushaltskonsolidierung im Vordergrund gestanden haben mag.
Der Gesetzgeber hat sich insoweit auf die Stellungnahme des Bundesrates zum JStG 2013 gestützt, die Steuerbefreiung für Streubesitzdividenden auf das EU-rechtliche Minimum zu begrenzen. Eine vollständige Steuerfreistellung auch für Gesellschaften mit Sitz in anderen EU-/EWR-Staaten wäre über die Vorgaben der Mutter-Tochter-Richtlinie hinausgegangen.
Die Mutter-Tochter-Richtlinie verlangt lediglich bei einer Mindestbeteiligung von 10 % eine Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle für von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschüttete Gewinne, auch wenn damit lediglich Mindestanforderungen formuliert sind, die die Möglichkeit offen lassen, auch bei einer niedrigeren Beteiligungsquote vom Steuerabzug an der Quelle abzusehen.
Das Finanzgericht hat insoweit zutreffend darauf abgestellt, dass eine innerstaatliche Regelung mit einer vollständigen Befreiung vom Steuerabzug unabhängig von der Beteiligungsquote bei ausländischen Beteiligten häufig nicht deren Steuerlast mindern, sondern lediglich dem Ansässigkeitsstaat dieser Beteiligten die Anrechnung der in Deutschland einbehaltenen Kapitalertragsteuer auf die dortige Steuer ersparen und damit auch die Möglichkeit eines Quellensteuerabzugs entsprechend Art. 10 Abs. 2 OECD-Musterabkommen und entsprechender Doppelbesteuerungsabkommen obsolet machen würde.
Der Gesetzgeber hätte zwar mit einer vollständigen Steuerfreistellung auch für Anteilseignerkörperschaften mit Sitz in anderen EU-/EWR-Staaten die zuvor in § 8b Abs. 1, Abs. 2 KStG zum Ausdruck gekommene Grundentscheidung weiterführen und damit den Anforderungen des EuGH entsprechen können. Dies würde jedoch der Abgrenzung der Besteuerungsrechte sowohl nach Maßgabe der Mutter-Tochter-Richtlinie als auch der Art. 10 Abs. 2 OECD-MustAbk entsprechenden Regelungen in den jeweils einschlägigen DBA widerstreiten.
Aus Sicht des BFH steht es dem Gesetzgeber in einer solchen Situation frei, den beschriebenen Zielkonflikt unter Einbeziehung von Streubesitzdividenden in die Steuerpflicht aufzulösen.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass eine systemkongruente Lösung auch die Einbeziehung von Veräußerungsgewinnen aus Streubesitzbeteiligungen in die Steuerpflicht erfordert hätte. Dass der Gesetzgeber darauf verzichtet hat, auch Veräußerungsgewinne i.S. von § 8b Abs. 2 KStG einem vergleichbaren "Streubesitzvorbehalt" zu unterwerfen, mag als inkonsequent angesehen werden, doch muss es auch insoweit genügen, wenn der Gesetzgeber nur nach Maßgabe der unionsrechtlichen Anforderungen in das Regelungsgefüge des § 8b KStG eingreift.
Die vorstehenden Erwägungen gelten entsprechend für § 9 Nr. 2a GewStG, der ebenfalls mit den Vorgaben der Verfassung vereinbar ist.
Update (02. Mai 2022)
Das unter dem Az. 2 BvR 1832/20 beim BVerfG anhängige Verfahren ist erledigt durch Beschluss vom 8. März 2022; die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.
Update (02. Februar 2021)
Gegen das Urteil wurde Verfassungsbeschwerde erhoben. Das Az. beim BVerfG lautet: 2 BvR 1832/20.
Update (10. Dezember 2020)
Das Urteil I R 29/17 wurde im BStBl. veröffentlicht, BStBl. II 2020, Seite 690.
Fundstelle
BFH, Urteil vom 18. Dezember 2019 (I R 29/17), veröffentlicht am 27. August 2020.