Update: Erneut Zweifel an deutscher Anti-Treaty-Shopping-Vorschrift

Das Finanzgericht Köln hat entschieden, dass die Missbrauchsvermeidungsvorschrift in der aktuellen Fassung des § 50d Abs. 3 EStG, wonach unter bestimmten Voraussetzungen keine Befreiung oder Ermäßigung von Quellensteuern gewährt wird, ohne Motivtest unionsrechtswidrig und geltungserhaltend zu reduzieren ist. Die Absicht Steuern zu sparen werde nicht per se als missbräuchlich betrachtet, sondern nur die Errichtung künstlicher Gebilde. Sofern ein Erstattungsanspruch besteht, ist dieser mit 6% p.a. zu verzinsen.

Hintergrund

Mit Urteil vom 20. Dezember 2017 (C 504/16, Deister Holding und C 613/16, Juhler Holding) hatte der EuGH die deutsche Treaty-Shopping-Regelung gekippt und entschieden, dass die deutsche Missbrauchsvorschrift in § 50d Abs. 3 EStG a.F. (anwendbar bis 2011) sowohl gegen die Mutter-Tochter-Richtlinie als auch gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt. In einem weiteren Verfahren hatte der EuGH dies mit Beschluss vom 14. Juni 2018 (C 440/17, GS) auch für die ab 2012 anwendbare Fassung des § 50d Abs. 3 EStG entschieden. Davor hatte die Finanzverwaltung am 4. April 2018 ein BMF-Schreiben zur unionsrechtskonformen Auslegung des § 50d Abs. 3 EStG veröffentlicht. Die ab 2012 anwendbare Fassung des § 50d Abs. 3 EStG sollte danach jedoch weiterhin eingeschränkt angewandt werden.

Sachverhalt

Die Klägerin (eine BV mit Sitz in den Niederlanden) war zu 100% an einer deutschen GmbH 1 beteiligt. Ursprüngliche Anteilseigner der BV waren zu je 50% zwei französische S.A.S., deren gemeinsamer 100%-Anteilseigner wiederum eine börsennotierte französische S.A. war. Durch Umstrukturierungen wurde die Konzernstruktur derart geändert, dass eine der beiden S.A.S, die vormals zu je 50% an der BV beteiligt waren, nunmehr nur noch 49% an der BV hielt. Die restlichen Anteile an der BV hielt nunmehr eine niederländische CV, die als vermögensverwaltende Personengesellschaft ausgestaltet war. Gesellschafter der CV waren zu 0,01% eine weitere französische Kapitalgesellschaft, deren Anteile wiederum zu 100% von der börsennotierten französischen Konzernobergesellschaft (S.A.) gehalten wurden. Die restlichen 99,99% der (zivilrechtlichen) CV-Anteile wurden nunmehr von einer weiteren deutschen GmbH 2 gehalten, deren Anteilseigner wiederum eine der beiden S.A.S war. Bezogen auf die GmbH 2, welche zu 99,99% die Anteile an der CV hielt, lag somit nach der Umstrukturierung eine sog. Mäander-Struktur vor. - Die Entwicklung der Konzernstruktur mit Schaubildern ist in Rz. 3ff des Urteils dargestellt.

Das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) war nach der Umstrukturierung der Auffassung, dass die Freistellung nach § 43b EStG nicht mehr vollständig, sondern nur noch bezogen auf den Strang der zu 49% an der BV beteiligten S.A.S. zu gewähren sei, da insoweit - wie im Ausgangssachverhalt - die Börsenklausel des § 50d Abs. 3 Satz 5 EStG anwendbar ist. Auch unionsrechtlich sah sich das BZSt nicht in der Lage dem Begehren einer vollständigen Entlastung abzuhelfen. Auch wenn der EuGH die Vorschrift des § 50d Abs. 3 EStG als EU‑rechtswidrig ansehe, könne von der Gesetzesnorm des § 50d Abs. 3 EStG nicht abgewichen werden (Rz. 35ff des Urteils).

Entscheidung des Finanzgerichts

Das Finanzgericht Köln gab der Klage statt. Es wendet § 50d Abs. 3 EStG aus unionsrechtlichen Gründen einschränkend an. Dem Steuerpflichtigen müsse ein "Motivtest" eröffnet werden, sodass neben der Prüfung der Tatbestandsmerkmale des § 50d Abs. 3 EStG im Einzelfall das Vorliegen von Missbrauch widerlegt werden kann. Nach der Rechtsprechung des EuGH (siehe oben) verstößt § 50d Abs. 3 EStG gegen die Niederlassungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit. Die Verletzung der Grundfreiheiten führt indes nicht dazu, dass diese Regelung überhaupt nicht anzuwenden ist. Vielmehr ist sie im Lichte der EU‑Grundfreiheiten geltungserhaltend auszulegen.

Zum einen, so das Finanzgericht, sei – wie hier - für einen sog. Mäander-Fall (d. h. der Zwischenschaltung einer niederländischen B.V. zwischen Mutter- und Enkelgesellschaft) die (hypothetische) Möglichkeit einer Steueranrechnung nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG einer Quellensteuerreduktion nach § 43b EStG (Befreiung von der Kapitalertragsteuer in Umsetzung der Mutter-Tochter-Richtlinie) gleichwertig, insofern könne auch kein Missbrauch vorliegen. Ungeachtet dessen, dass bereits die (mittelbare) Beteiligung eines im Inland ansässigen Gesellschafters dem entgegensteht, ist allein die Erwägung Steuern zu sparen, nicht illegitim. Unzulässig werde dies erst beim Einsatz rein künstlicher Gebilde, die bar jeder wirtschaftlichen Realität sind. Dies ist im Streitfall jedoch nicht gegeben.

Das Finanzgericht bekräftigte zudem seine eigene Rechtsprechung, aufgrund derer die Zwischenschaltung einer vermögensverwaltenden Personengesellschaft (hier die niederländische CV) unschädlich für die Anwendung von § 43b EStG ist. Das Finanzgericht hat ferner erneut bekräftigt, dass es möglich sein muss, im Rahmen des § 50d Abs. 3 EStG einen Motivtest (Gegenbeweis über einen mangelnden Regelungsmissbrauch im Einzelfall) zu führen.

Bei Steuerbeträgen, die unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts erhoben worden sind, besteht ein Anspruch auf Erstattung der erhobenen Beträge zuzüglich Zinsen unmittelbar aus dem Unionsrecht. So ist nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 18. April 2013, C-565/11, Irimie) eine nationale Regelung unionsrechtswidrig, die die bei der Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer zu zahlenden Zinsen auf jene Zinsen beschränkt, die ab dem auf das Datum des Antrags auf Erstattung der Steuer folgenden Tag angefallen sind. Eine derartige nationale Regelung dürfe im Hinblick auf die Erfordernisse des Grundsatzes der Effektivität nicht dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen, die er durch die zu Unrecht gezahlte Steuer erlitten habe, vorenthalten werde. Der BFH hat diese unionsrechtlichen Grundsätze im Übrigen in einem späteren Urteil vom 22. September 2015 (VII R 32/14) bestätigt.

Mit Blick auf den Beginn des Zinslaufs führt das Finanzgericht aus, dass der Verzinsungsanspruch an dem Tag beginnt, ab dem die Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen (sprich dem Tag der Zahlung der Kapitalertragsteuer). Im Anschluss merkt das Finanzgericht jedoch an, dass der Zinslauf (doch) erst ab dem Tag beginnt, an dem der Erstattungsantrag gestellt wurde. Im Streitfall war der Beginn des Zinslaufs sogar noch später, da die Klägerin einen späteren Zeitpunkt begehrte und das Gericht nicht hierüber hinausgehen konnte.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig; unter I B 60/20 ist Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH anhängig.

Update (22. Oktober 2021)

Der BFH hat seinen Beschluss I B 60/20 vom 09. Juni 2021 (siehe Update 11. Oktober 2021) veröffentlicht.

Update (11. Oktober 2021)

Der BFH hat die Nichtzulassungsbeschwerde des BZSt gegen das Urteil 2 K 140/18 des Finanzgerichts Köln durch Beschluss vom 09. Juni 2021, I B 60/20, als unbegründet zurückgewiesen (vgl. IStR 2021, 762). Das Urteil des Finanzgerichts ist damit rechtskräftig.

Nach Ansicht des BFH hat die Rechtsfrage, ob § 50d Abs. 3 EStG idF des BeitrRLUmsG in der Weise geltungserhaltend zu reduzieren ist, wie das Finanzgericht in seinem Urteil entschieden hat, keine grundsätzliche Bedeutung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, weil sie durch das EuGH-Urteil GS (C-440/17) in einem deutschen Mäander-Fall im Sinne der Rechtsprechung des Finanzgerichts geklärt wurde. Daher komme auch eine Revisionszulassung zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2, Var. 1 FGO) nicht in Betracht.

In Bezug auf die Entscheidung des Finanzgerichts zur Verzinsung des Erstattungsbetrags hat das BZSt nicht geltend gemacht, dass ein Grund für die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 FGO vorliege, so dass sich der BFH hierzu nicht äußern musste.
Der BFH hat seinen Beschluss bisher nicht veröffentlicht.

Fundstelle

Finanzgericht Köln, Urteil vom 30. Juni 2020 (2 K 140/18). rkr.

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