Geltungserhaltende Auslegung des § 2a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und Abs. 2a EStG
Das Niedersächsische Finanzgericht hat entschieden, dass § 2a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und Abs. 2a EStG bei wörtlicher Auslegung insoweit gegen die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 Abs. 1 AEUV verstößt, als Verluste aus der Veräußerung von Beteiligungen an Drittstaaten-Kapitalgesellschaften auch dann erfasst sind, wenn Veräußerer und Erwerber der Anteile in Deutschland wohnen, mithin der Sachverhalt von den deutschen Finanzbehörden ohne weiteres aufgeklärt werden kann. Die Unionsrechtswidrigkeit war vorliegend mittels einer geltungserhaltenden Erweiterung des § 2a Abs. 2a EStG zu beseitigen.
Sachverhalt
Der Kläger war seit April 1997 an einer in Polen ansässigen Kapitalgesellschaft i.H.v. 10,67% beteiligt. Kurz nach Erwerb der Beteiligung gewährte der Kläger der polnischen Kapitalgesellschaft ein Darlehen. Aufgrund einer nicht vorhersehbaren Flutkatastrophe kam die polnische Kapitalgesellschaft in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Trotz mehrfacher Gewährung von Gesellschafterdarlehen sowie Zinsstundungen war die Kapitalgesellschaft nie profitabel, weshalb der Kläger seine Anteile an einen im Inland ansässigen Käufer veräußerte.
Der Kläger machte in seiner Steuererklärung für den VZ 2003 (Streitjahr) Verluste i.R. von § 17 EStG geltend, wobei er auch die Gesellschafterdarlehen als Anschaffungskosten der Anteile ansetzte. Das Finanzamt verweigerte unter Berufung auf § 2a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Einkommensteuergesetz (EStG) die Verrechnung der Verluste mit seinen übrigen Einkünften.
Im Streitjahr war Polen noch nicht Mitglied der EU (erst ab dem 1. Mai 2004) und somit Drittstaat.
Richterliche Entscheidung
Die Klage war nach Auffassung des Niedersächsischen Finanzgerichts teilweise begründet, da die Verluste aus der Veräußerung der Beteiligung an der polnischen Kapitalgesellschaft steuermindernd zu berücksichtigen waren (Rz. 79).
Zwar stand der Wortlaut des § 2a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, Abs. 2 Satz 2 und Abs. 2a EStG einer steuerlichen Anerkennung der Verluste entgegen. Diese Vorschriften verletzten den Kläger aber in seinem Recht auf Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 AEUV.
Da § 2a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG i.V.m. § 17 Abs. 1 EStG im Streitjahr bei Beteiligungen von mindestens 1% am Stammkapital anzuwenden war, war auch die Kapitalverkehrsfreiheit als Grundfreiheit einschlägig (Rz. 93). Im Vergleich zu einem Inlandsfall kam es vorliegend zu einer Diskriminierung, da die Verluste im Drittstaatenfall aufgrund von § 2a EStG nicht geltend gemacht werden konnten (Rz. 98 f.).
Eine Rechtfertigung der Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit durch die sog. Standstill-Klausel des Art. 64 Abs. 1 AEUV kam nach Auffassung des Finanzgerichts nicht in Betracht. Denn durch die dynamische Verweisung auf § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG war es in der Zeit von 1994 bis 2003 zu einer Erweiterung auch des Anwendungsbereichs des § 2a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG gekommen, da der Schwellenwert in § 17 EStG von ursprünglich 25% auf 1% abgesenkt worden war (Rz. 102).
Eine weitere Rechtfertigung der Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit hätte sich ferner ergeben können, wenn eine umfassende Verpflichtung zur Amtshilfe und Auskunftserteilung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen rechtlich nicht bestanden hätte. Dies hätte einen zwingenden Grund i.S.d. Art. 65 Abs. 3 AEUV i.V.m. Art. 65 Abs. 1 Buchst. a) AEUV zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung darstellen können, wenn die Einkünfte des Klägers aus der Veräußerung der Beteiligung an der polnischen Gesellschaft von den deutschen Finanzbehörden nicht zuverlässig hätten festgestellt werden können (Rz. 106).
Dass im Streitfall eine solche umfassende Verpflichtung zur Amtshilfe und Auskunftserteilung nicht vorlag (insbesondere gab es im für das Streitjahr 2003 anzuwendenden DBA mit Polen keine sog. große Auskunftsklausel), war nach dem Finanzgericht vorliegend zu vernachlässigen. Denn bei der Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften war für die Frage der Aufklärung des Sachverhalts nach Auffassung des Finanzgerichts entscheidend, wo Veräußerer und Erwerber ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatten. Wenn – wie im Streitfall – Veräußerer als auch Erwerber in Deutschland ansässig sind, ist eine Aufklärung des Sachverhalts durch die deutschen Finanzämter möglich (Rz. 107).
Nach Meinung des Finanzgerichts führte die Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 AEUV aber nicht dazu, dass die Regelung in § 2a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG überhaupt nicht anzuwenden war. Vielmehr war sie im Lichte der EU-Grundfreiheiten geltungserhaltend auszulegen (Rz. 108). Es war eine geltungserhaltende Erweiterung, um den Tatbestand vorzunehmen, dass eine Anwendung des § 2a Abs. 2a Satz 1 Nr. 2 EStG auch dann erfolgen muss, wenn der steuerrechtliche Sachverhalt des An- und späteren Verkaufs der Beteiligung ausschließlich in Deutschland verwirklicht worden ist (Rz. 110). Aufgrund dieser Auslegung sah das Finanzgericht keinen Grund, den Fall dem EuGH vorzulegen.
Zur Frage der Verlustberücksichtigung der Höhe nach urteilte das Finanzgericht entgegen der Auffassung des Klägers, dass die an die polnische Kapitalgesellschaft ausgereichten Darlehen überwiegend nicht als Anschaffungskosten der Beteiligung für Zwecke des § 17 EStG zu erfassen sind, da diese nicht als sog. Finanzplandarlehen qualifizieren (Rz. 122).
Das Finanzgericht hatte die Revision zugelassen, die aber offenbar nicht eingelegt wurde. Das Urteil ist laut dem Newsletter des Finanzgerichts rechtskräftig.
Fundstelle
Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 17. September 2020 (11 K 109/18), siehe den Newsletter 12/2020 des Finanzgerichts; rkr.