EuGH: Zweifel an den erforderlichen Nachweispflichten zur Erstattung von Kapitalertragsteuer bei "Streubesitzdividenden"
In einem Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Köln geht es um die Frage der Vereinbarkeit der in § 32 Abs. 5 Körperschaftsteuergesetz (KStG) aufgestellten Nachweiserfordernisse für die Erstattung von Kapitalertragsteuer bei "Streubesitzdividenden". In seinen heutigen Schlussanträgen sieht der Generalanwalt in der deutschen Regelung einen Verstoß gegen die in Artikel 63 AEUV verankerte Kapitalverkehrsfreiheit und hat dem Gerichtshof vorgeschlagen, die Vorlagefrage des Finanzgerichts in diesem Sinne zu beantworten.
Hintergrund und Ausgangslage
Die Klägerin ist eine in Großbritannien ansässige Kapitalgesellschaft, die zu weniger als 6% an einer deutschen Tochtergesellschaft beteiligt war. 100%iger Anteilseigner der Klägerin war eine börsennotierte ausländische Kapitalgesellschaft. Die Klägerin hatte von ihrer Tochtergesellschaft Gewinnausschüttungen erhalten, für die Kapitalertragsteuer (KESt) und Solidaritätszuschlag einbehalten und abgeführt wurden. Das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) gewährte der Klägerin - mangels Vorliegens des erforderlichen Nachweises - nur eine anteilige Erstattung der KESt unter Berücksichtigung des einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommens (DBA).
Bei Streubesitzdividenden vom Ausland muss der Nachweis durch eine ausländische Bescheinigung dergestalt erbracht werden, dass die Kapitalertragsteuer nicht bei der ausländischen Gesellschaft oder einem unmittelbar oder mittelbar an ihr beteiligten Anteilseigner angerechnet oder als Betriebsausgabe oder als Werbungskosten abgezogen werden kann und dass eine Anrechnung, ein Abzug oder Vortrag auch tatsächlich nicht erfolgt ist. Das Finanzgericht Köln bezweifelt, ob diese Anforderungen u. a. mit dem Grundsatz der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV) vereinbar sind (siehe Pressemitteilung vom 17. November 2020). Denn von einer im Inland ansässigen Gesellschaft wird bei gleicher Beteiligungshöhe zum Zwecke der Erstattung der Kapitalertragsteuer ein solcher Nachweis nicht gefordert (Vorlagefrage 1). Falls dies mit geltendem EU-Recht vereinbar sein sollte, soll mit einer zweiten Frage geklärt werden, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Prinzip des effet utile (praktische Wirksamkeit von Europarecht) dem Erfordernis der genannten Bescheinigung entgegenstehen, wenn es dem im Ausland ansässigen Bezieher von Dividenden aus sog. Streubesitzanteilen faktisch unmöglich ist, diese Bescheinigung beizubringen?
Schlussanträge
Der Generalanwalt (GA) teilt in seinen Schlussanträgen die vom Finanzgericht vorgebrachten Zweifel an der Unionsrechtstauglichkeit der deutschen Vorschriften und sieht einen Verstoß gegen Art. 63 AEUV, da von einer im Inland ansässigen Gesellschaft bei gleicher Beteiligungshöhe zum Zwecke der Erstattung der Kapitalertragsteuer ein solcher Nachweis nicht gefordert wird. Um mit Art. 63 AEUV vereinbar zu sein, müsse eine solche nationale Vorschrift der empfangenden gebietsfremden Gesellschaft die Kapitalertragsteuer in dem Umfang erstatten, in dem sie im Ansässigkeitsstaat nach einem anwendbaren DBA nicht angerechnet werden kann. Ist im Wohnsitzstaat nur eine teilweise Anrechnung möglich, muss der Quellenstaat die Differenz erstatten.
Nach Auffassung des GA könne die geschilderte Ungleichbehandlung gebietsfremde Gesellschaften davon abhalten, in Gesellschaften zu investieren, die in Deutschland ansässig sind und könne somit auch ein Hindernis für die Kapitalbeschaffung gebietsansässiger Gesellschaften bei in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Gesellschaften darstellen. Diese Ungleichbehandlung könne nur gerechtfertigt werden, wenn sie entweder Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Davon sei aber im Vorlagefall nicht auszugehen.
Objektiv Vergleichbare Situation: Der GA teilt die Auffassung des vorlegenden Gerichts, dass - in Anbetracht des Ziels der streitigen deutschen Regelung, eine mehrfache Steuerbelastung von Dividenden zu vermeiden - sich die Gesellschaften, welche die Streubesitzdividenden erhalten, in vergleichbaren Situationen befinden, je nachdem, ob sie in Deutschland oder in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind. Denn: Sobald ein Mitgliedstaat nicht nur die gebietsansässigen, sondern auch die gebietsfremden Gesellschaften hinsichtlich der Dividenden, die sie von einer gebietsansässigen Gesellschaft beziehen, einseitig oder im Wege eines Abkommens der Einkommensteuer unterwirft, nähert sich die Situation der gebietsfremden Gesellschaft derjenigen der gebietsansässigen Gesellschaft an.
Keine Rechtfertigung durch zwingendes Allgemeininteresse: Die streitigen deutschen Bestimmungen seien nicht geeignet, das Ziel der Vermeidung einer doppelten Berücksichtigung der einbehaltenen Quellensteuer zu erreichen, da sie dieses Ziel in inkohärenter Weise verfolgen. Die Erstattung der Quellensteuer bei gebietsansässigen Gesellschaften unterliege nämlich nicht den gleichen Bedingungen wie bei gebietsfremden Gesellschaften, auch wenn nicht ausgeschlossen werden könne, dass gebietsansässige Gesellschaften gebietsfremde direkte oder indirekte Anteilseigner haben, für die nationale Rechtsvorschriften gelten, die die Berücksichtigung der erhobenen Steuer auf ihrer Ebene ermöglichen. So ist es möglich, dass diese Steuer bei gebietsansässigen Gesellschaften doppelt berücksichtigt wird. Der als Rechtfertigung angeführte Umstand, dass nach deutschem Recht die einbehaltene Quellensteuer nur auf der Ebene der gebietsansässigen Gesellschaft, die die Dividenden erhält, berücksichtigt werden kann, ändert nichts an dieser Analyse. Insofern ist der GA der Ansicht, dass das Ziel, eine doppelte Berücksichtigung der einbehaltenen Quellensteuer zu vermeiden, die Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs nicht rechtfertigt.
Angesichts der vom GA vorgeschlagenen Antwort auf die erste Frage erübrigte sich eine Beantwortung der zweiten Frage. In Anbetracht der Möglichkeit, dass der Gerichtshof in Bezug auf die erste Frage eine andere Auffassung vertritt, hat der GA jedoch hierzu in den Rz. 72 ff. weitere Ausführungen gemacht:
Selbst wenn man davon ausgehe, dass das materielle Erfordernis der Nichtanrechenbarkeit, Nichtabziehbarkeit und Nichtvortragsfähigkeit der deutschen Kapitalertragsteuer im Einklang mit der Kapitalverkehrsfreiheit steht (das für die Erstattung der Kapitalertragsteuer zuständige Bundeszentralamt für Steuern – BZSt - hatte hierfür die ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten und die Notwendigkeit, die doppelte Berücksichtigung der Quellensteuer zu verhindern, als Rechtfertigungsgründe genannt), ist es nach Auffassung des GA nicht verhältnismäßig, den Nachweis hierfür durch eine Bescheinigung der Steuerbehörden des Ansässigkeitsstaats des Gläubigers zu fordern. Dem ausländischen Gläubiger müssten unionsrechtlich auch andere Nachweismöglichkeiten gewährt werden.
Fundstelle
EuGH, Schlussanträge vom 20. Januar 2022 in der Rechtssache C‑572/20, ACC Silicones
Eine englische Zusammenfassung der Schlussanträge finden Sie hier.
Anmerkung: Beim Finanzgericht Köln ist in einem weiteren Verfahren unter dem Az. 2 K 2876/16 die Klage einer schwedischen Kapitalgesellschaft gegen das BZSt bzgl. der Nachweisanforderungen beim Antrag auf Erstattung von Kapitalertragsteuer gemäß § 32 Abs. 5 KStG anhängig. Weitere Informationen dazu finden Sie in unserem Blogbeitrag vom 18. November 2020.