Online-Verfahren – ein Probe-Update für den Zivilprozess

Wer kennt es nicht: Man hat eine Forderung gegen einen säumigen Schuldner, aber der Gang zum Gericht erscheint zu aufwendig, zu kompliziert, zu teuer. Man wünscht sich eine einfache, schnelle und kostengünstige Möglichkeit, sein Recht durchzusetzen, ohne sich in Papierbergen zu verlieren oder stundenlang in Gerichtssäulen zu sitzen. Was, wenn es dafür eine digitale Lösung gäbe? Das Bundesministerium der Justiz hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der genau das ermöglichen soll: ein Online-Verfahren, das die Geltendmachung von Ansprüchen in Fällen geringer Streitwerte durch einen einfachen, digital unterstützten Gerichtsprozess ermöglicht. Der Referentenentwurf für das sogenannte Gesetz zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit wurde am 11. Juni 2024 veröffentlicht.

Verfasst von Dr. Jan Liesenfeld

Was ist das Ziel des Gesetzes?

Das Ziel des Gesetzes ist es, ein neues Verfahren für zivilrechtliche Streitigkeiten vor den Amtsgerichten zu schaffen, das digital und mit Hilfe von Eingabe- und Abfragesystemen durchgeführt werden kann. Damit soll die Justiz moderner, nutzerfreundlicher und effizienter werden. Das Online-Verfahren soll vor allem für Fälle geeignet sein, die auf die Zahlung einer Geldsumme bis zu 8.000 Euro gerichtet sind, also für sogenannte Kleinforderungen. Das Gesetz soll zunächst nur für eine Erprobungsphase von rund zehn Jahren gelten, in der die praktische Umsetzung und die Wirkung des Online-Verfahrens evaluiert werden sollen. 

Was steckt hinter dem Online-Verfahren?

Das Online-Verfahren basiert auf zwei zentralen Elementen: den digitalen Eingabesystemen und der Kommunikationsplattform. Die digitalen Eingabesysteme sind elektronische Anwendungen, die den Parteien helfen sollen, ihre Klagen, Anträge und Erklärungen in einer strukturierten und verständlichen Form zu erstellen und einzureichen. Die digitalen Eingabesysteme werden vom Bundesministerium der Justiz einheitlich entwickelt und bereitgestellt, wobei die Länder die Möglichkeit haben, die Entwicklung und Bereitstellung zu übernehmen. Die digitalen Eingabesysteme sind über ein bundes- und landesweites Justizportal, wie z.B. www.justiz.de, zugänglich und müssen barrierefrei und nutzerfreundlich gestaltet sein. Die mit den Eingabesystemen erstellten elektronischen Dokumente können als strukturierte Datensätze übermittelt werden, wenn eine automatisierte Verarbeitung durch das Gericht möglich ist, abweichend von der sonst geltenden PDF-Format-Vorgabe.

Die Kommunikationsplattform ist eine elektronische Anwendung, die die digitale Kommunikation, den Austausch und die Übermittlung zwischen den Parteien und dem Gericht ermöglichen soll, einschließlich der gemeinsamen Bearbeitung von elektronischen Dokumenten. Die Kommunikationsplattform wird ebenfalls vom Bundesministerium der Justiz einheitlich entwickelt und bereitgestellt, wobei auch hier die Länder die Möglichkeit haben, die Entwicklung und Bereitstellung zu übernehmen. Die Kommunikationsplattform wird in das bundes- und landesweite Justizportal integriert und muss ebenfalls barrierefrei und nutzerfreundlich sein. Sie ermöglicht die direkte Eingabe von Anträgen und Erklärungen durch die beteiligten Parteien mit Hilfe der digitalen Eingabesysteme, wodurch die Schriftform ersetzt wird.

Für die Nutzung der digitalen Eingabesysteme und der Kommunikationsplattform ist eine Identifizierung erforderlich, die über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA), Bürgerkonten mit Online-Identifizierungsverfahren oder Organisationskonten mit sicheren Verfahren wie ELSTER erfolgen kann. 

Wie soll das Online-Verfahren ablaufen?

Das Online-Verfahren soll weitgehend digital abgewickelt werden. Die Klageeinreichung soll mithilfe digitaler Eingabesysteme erfolgen, die die Rechtsuchenden durch gezielte Fragen und Informationen bei der Formulierung ihrer Ansprüche unterstützen sollen. Die Klage kann dann auf zwei Wegen eingereicht werden: entweder über sichere Übermittlungswege (etwa ein digitales Bürgerkonto oder das beA für Anwälte) oder über eine Kommunikationsplattform. Die Klage gilt als im Online-Verfahren eingereicht, wenn sie über ein digitales Eingabesystem an das Gericht gesendet wird.

Die Zustellung der Klage beim Beklagten richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften der ZPO, es sei denn, es gelten besondere Regelungen für die digitale Kommunikation im weiteren Verfahren. Diese Regelungen gelten, wenn die Klage unter die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechte-Verordnung) fällt oder unter andere durch Rechtsverordnung geregelte Anwendungsbereiche für eine Vielzahl gleichartiger und standardisierbarer Verfahren, oder wenn der Beklagte anwaltlich vertreten ist oder sich freiwillig auf der Kommunikationsplattform identifiziert hat. In diesen Fällen müssen die Verfahrensbeteiligten die Kommunikationsplattform im Verfahren nutzen, dort können sie auch die Klageschrift abrufen. Natürliche Personen, die nicht anwaltlich vertreten sind, sind von dieser Nutzungspflicht ausgenommen; sie haben auch die Möglichkeit, schriftliche Anträge und Erklärungen an das Gericht zu übermitteln. Der Beklagte ist mit der Klage-Zustellung über den Umfang der Nutzungspflichten zu informieren und erhält die Möglichkeit, sich innerhalb einer Frist von zwei Wochen nach der Zustellung auf der Kommunikationsplattform zu identifizieren.

Die beklagte Partei soll im Idealfall über die Kommunikationsplattform auf die Klage erwidern. Dabei soll sie ebenfalls von digitalen Eingabesystemen unterstützt werden, die sie bei der Darstellung ihrer Verteidigung leiten sollen. Die beklagte Partei soll auch die Möglichkeit haben, eine Widerklage zu erheben, sofern diese ebenfalls auf Zahlung einer Geldsumme bis zu 8.000 Euro gerichtet ist.

Das Gericht soll nach Eingang der Klageerwiderung oder nach Ablauf der Frist für die Klageerwiderung über den weiteren Verlauf des Verfahrens entscheiden. Dabei soll es die Möglichkeit haben, den Parteien Vorgaben zur Strukturierung des Streitstoffs zu machen, etwa zur Gliederung, zur Bezeichnung und zum Umfang der Tatsachenbehauptungen und Beweismittel. Das Gericht soll auch die Möglichkeit haben, das Verfahren ohne mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn es dies für sachgerecht hält und die Parteien dem nicht widersprechen. Andernfalls soll das Gericht einen Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmen, der entweder in Präsenzform oder im Wege der Video- oder Telefonkonferenz stattfinden kann. Beweise darf das Gericht frei erheben und sich über offenkundige Tatsachen auch selbständig informieren, zum Beispiel durch Recherche im Internet.

Das Gericht soll nach Durchführung der mündlichen Verhandlung oder nach Verzicht auf eine solche ein Urteil oder einen Beschluss erlassen, der den Parteien zugestellt wird. Eine Verkündung der Entscheidung soll entbehrlich sein. Das Gericht soll verpflichtet sein, die Entscheidung zu veröffentlichen, sofern die Öffentlichkeit an der Veröffentlichung ein Interesse hat oder haben kann.

Für wen gilt das Online-Verfahren?

Das Online-Verfahren soll für alle zivilrechtlichen Streitigkeiten vor den Amtsgerichten gelten, die auf Zahlung einer Geldsumme bis zu 8.000 Euro gerichtet sind. Vor Amtsgerichten muss eine Partei nicht anwaltlich vertreten sein, sodass sie das Online-Verfahren auch allein führen kann. Dies umfasst sowohl Streitigkeiten zwischen natürlichen Personen als auch zwischen juristischen Personen des Privatrechts, wie beispielsweise Gesellschaften, Vereinen oder Stiftungen. Das Online-Verfahren soll jedoch nicht für Streitigkeiten gelten, die in die Zuständigkeit der Familiengerichte, der Arbeitsgerichte, der Sozialgerichte oder der Finanzgerichte fallen.

Das geplante Onlineverfahren ist grundsätzlich freiwillig. Für Kläger gilt, dass sie die Wahl haben, ob sie ihren Zahlungsanspruch online oder auf herkömmliche Weise einreichen wollen. Für Beklagte gilt, dass sie sich nach der Zustellung der Klage auf der Kommunikationsplattform des Onlineverfahrens identifizieren müssen, wenn sie anwaltlich vertreten sind und die Klage online eingereicht wurde. Wenn sie nicht anwaltlich vertreten sind, können sie weiterhin schriftliche Anträge und Erklärungen an das Gericht einreichen.

Bei gerichtlicher Anordnung müssen die Parteien digitale Eingabesysteme und die Kommunikationsplattform aber verpflichtend nutzen, wenn es sich um Ansprüche aus der Fluggastrechteverordnung (EG) Nr. 261/2004 handelt oder um Ansprüche, die in den Anwendungsbereich von standardisierten und massenhaften Verfahren fallen, die durch Rechtsverordnung bestimmt werden. Eine Ausnahme gilt wiederum für natürliche Personen ohne anwaltliche Vertretung.

Welche Kosten entstehen durch das Online-Verfahren?

Die Kosten für das Online-Verfahren sollen grundsätzlich den gleichen Regeln unterliegen wie die Kosten für das herkömmliche Verfahren nach der Zivilprozessordnung. Das bedeutet, dass die Gerichtskosten nach dem Gerichtskostengesetz und die Anwaltskosten nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz berechnet werden. Die Höhe der Kosten richtet sich dabei nach dem Streitwert, der in der Regel dem geltend gemachten Betrag entspricht.

Allerdings soll es für das Online-Verfahren einige Besonderheiten geben, die zu einer Kostenersparnis für die Parteien führen können. Dies gilt insbesondere für folgende Aspekte:

  • Die Parteien können durch die digitale Kommunikation mit dem Gericht und untereinander Portokosten und Papierkosten sparen.
  • Die Parteien können durch die Möglichkeit einer Verhandlung per Video- oder Telefonkonferenz oder durch den Verzicht auf eine mündliche Verhandlung Reisekosten und Wegezeiten sparen.
  • Die Parteien können durch die Beschleunigung des Verfahrens durch die digitale Strukturierung des Streitstoffs und die Erleichterung der Beweisaufnahme Zins- und Verzugskosten sparen.

Der Gesetzentwurf sieht jedoch keine generelle Reduzierung der Gerichtsgebühren für das Online-Verfahren vor, da dies zu einer Ungleichbehandlung der Parteien führen könnte, die das herkömmliche Verfahren wählen oder wählen müssen. Allerdings soll nach Abschluss der Erprobungsphase geprüft werden, ob die Effizienzgewinne des Online-Verfahrens zu einer Anpassung der Gerichtsgebühren führen sollten.

Welche Vor- und Nachteile hat das Online-Verfahren?

Das Online-Verfahren hat sowohl Vor- als auch Nachteile, die durch entsprechende Stellungnahmen verschiedener Verbände und Organisationen bereits adressiert worden sind:

Vorteile:

  • Das Online-Verfahren soll den Zugang zum Recht für die Bürgerinnen und Bürger sowie für die Unternehmen erleichtern, indem es eine einfache, nutzerfreundliche und barrierefreie Möglichkeit bietet, Ansprüche geltend zu machen oder sich zu verteidigen.
  • Das Online-Verfahren soll die Justiz moderner, effizienter und transparenter machen, indem es den Einsatz digitaler Technologien fördert, die Verfahren beschleunigt, die Gerichte entlastet und die Veröffentlichung von Entscheidungen ermöglicht.
  • Das Online-Verfahren soll zu einer Kostenersparnis für die Parteien führen, indem es Portokosten, Papierkosten, Reisekosten, Wegezeiten, Zins- und Verzugskosten reduziert.
  • Das Online-Verfahren soll zu einer Qualitätssteigerung des Parteivortrags und der gerichtlichen Entscheidungen führen, indem es die Strukturierung des Streitstoffs und die Nutzung strukturierter Daten unterstützt.

Nachteile:

  • Das Online-Verfahren birgt das Risiko, dass die Parteien ihre Rechte nicht ausreichend wahrnehmen oder schützen können, wenn sie nicht anwaltlich vertreten sind oder wenn sie nicht über die erforderlichen technischen Kenntnisse oder Geräte verfügen.
  • Das Online-Verfahren birgt das Risiko, dass die Parteien ihre Ansprüche nicht effektiv durchsetzen oder abwehren können, wenn das Verfahren ohne mündliche Verhandlung oder ohne Beweisaufnahme durchgeführt wird oder wenn die gerichtliche Entscheidung nicht verkündet wird.
  • Das Online-Verfahren birgt das Risiko, dass die Parteien ihre Verfahrensfreiheit und  gestaltung eingeschränkt sehen, wenn sie an das Online-Verfahren gebunden sind oder wenn sie dem Verfahrensablauf des Gerichts folgen müssen.
  • Das Online-Verfahren birgt das Risiko, dass die Parteien ihre Daten nicht ausreichend geschützt sehen, wenn die Kommunikationsplattform oder die digitalen Eingabesysteme Sicherheitslücken oder technische Störungen aufweisen oder wenn die Veröffentlichung von Entscheidungen zu einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten führt.

Ausblick

Der Gesetzentwurf kommt frisch aus der am 30. Juli 2024 beendeten Verbändeanhörung. Nun liegt der Gesetzentwurf dem Bundeskabinett zur Beschlussfassung vor. Anschließend soll der Gesetzentwurf dem Bundestag und dem Bundesrat zur Beratung und Zustimmung zugeleitet werden. Der genaue Zeitplan für diese Schritte ist noch nicht bekannt. Das Gesetz soll nach seiner Verkündung in Kraft treten, voraussichtlich im Jahr 2025.


Verfasser dieses Beitrages: Dr. Jan Liesenfeld

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