BVerfG: Gesetzliche Regelungen zur Mindestgewinnbesteuerung sind mit dem Grundgesetz vereinbar
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat entschieden, dass die gesetzlichen Regelungen der sogenannten Mindestgewinnbesteuerung bei der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer verfassungsgemäß sind, soweit Körperschaftsteuersubjekte im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Körperschaftsteuergesetz (KStG) beziehungsweise Gesellschaften im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 1 Gewerbesteuergesetz (GewStG) betroffen sind.
Hintergrund
Das konkrete Normenkontrollverfahren betrifft die Frage, ob der nach den zu beurteilenden Vorschriften prozentual beschränkte Abzug von Verlusten durch Verlustvortrag mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Gegenstand der Vorlage ist eine besondere Sachverhaltskonstellation, in der ein vom Bundesfinanzhof so bezeichneter „bilanzsteuerrechtlicher ‚Umkehreffekt‘“ zu einem erhöhten Verlustvortrag zur Körperschaftsteuer und zu einem höheren vortragsfähigen Gewerbeverlust bei einer bilanzierenden Kapitalgesellschaft führte, die diese in der Folgezeit nicht vollständig aufzehren konnte, weil über ihr Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet wurde.
Sachverhalt
Die zu beurteilenden Vorschriften regeln – seit dem Veranlagungs- beziehungsweise Erhebungszeitraum 2004 – den Abzug von Verlusten in Besteuerungsabschnitten, die auf die Verlustentstehung folgen. Das Gesetz spricht bei der Körperschaftsteuer von Verlustvortrag, § 8 Abs. 1 KStG in Verbindung mit § 10d Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG), und bei der Gewerbesteuer von der Kürzung von Fehlbeträgen, § 10a Sätze 1 und 2 GewStG.
Der Verlustvortrag bei der Körperschaftsteuer ist in der verfahrensgegenständlichen Fassung zeitlich nicht begrenzt, jedoch der Höhe nach beschränkt. Konkret ist der Verlustvortrag in einer Besteuerungsperiode bis zu einem Gesamtbetrag der Einkünfte von einer Million Euro (sogenannter Sockelbetrag) vollständig möglich. Übersteigt der Gesamtbetrag der Einkünfte diesen Sockelbetrag, ist ein Abzug vorgetragener Verluste jeweils nur in Höhe von weiteren 60 Prozent des diesen Betrag übersteigenden Gesamtbetrags der Einkünfte möglich. Der Abzug bestehender Verlustvorträge wird damit zeitlich gestreckt. Infolge dieser „Vortragstechnik“ verbleibt trotz eines weiter vorhandenen Verlustvortrags ein positives Einkommen, das der Besteuerung unterliegt. Es erfolgt damit eine „Mindestgewinnbesteuerung“. Eine entsprechende Regelung gilt für die Kürzung von Fehlbeträgen bei der Gewerbesteuer.
Mit Bericht vom 15. September 2011 veröffentlichte die beim Bundesministerium der Finanzen eingesetzte Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“ die Ergebnisse einer Evaluierung der Regelungen zur Verlustverrechnung – insbesondere des Verlustvortrags und der Mindestgewinnbesteuerung.
Der Bundesfinanzhof begehrt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber, ob die zu beurteilenden Vorschriften gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen.
Das vorlegende Gericht halte zwar daran fest, dass die Mindestgewinnbesteuerung in ihrer „Grundkonzeption“ – einer zeitlichen Streckung des Verlustvortrags – nicht gegen Verfassungsrecht verstoße. Es sei jedoch davon überzeugt, dass die verfahrensgegenständlichen Vorschriften den „Kernbereich“ einer Ausgleichsfähigkeit von Verlusten dann verletzten, wenn – wie in dem der Vorlage zugrundeliegenden Ausgangsverfahren – auf der Grundlage eines inneren Sachzusammenhangs beziehungsweise einer Ursachenidentität zwischen Verlust und Gewinn der Mindestbesteuerung im Einzelfall die Wirkung zukomme, den Verlustabzug gänzlich auszuschließen und eine leistungsfähigkeitswidrige Substanzbesteuerung auszulösen. Der Ausgangsfall sei dadurch gekennzeichnet, dass Aufwand und Ertrag auf demselben Rechtsgrund beruhten und sich der Höhe nach entsprächen. Der Ertrag erscheine als zeitverschobener actus contrarius zum Aufwand. Derartige in der Besteuerungspraxis der Auflösung von Kapitalgesellschaften häufig auftretende „bilanzsteuerrechtliche ‚Umkehreffekte‘“ hätten weder einen entsprechenden Liquiditätszufluss noch einen Zuwachs an besteuerungswürdiger Leistungsfähigkeit zur Folge.
Entscheidung des BVerfG
Der Senat hat entschieden, dass die Regelungen zur Mindestgewinnbesteuerung insbesondere mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar sind. Ein Verstoß gegen den vorliegend maßgeblichen Willkürmaßstab liegt nicht vor.
Dabei ist über die vom Bundesfinanzhof vorgelegte Fallkonstellation des Eintritts eines „Definitiveffekts“ im Zusammentreffen mit einem „bilanzsteuerrechtlichen ‚Umkehreffekt‘“ hinaus die Vorfrage zu prüfen, ob die Vorschriften der Mindestgewinnbesteuerung in ihrer „Grundkonzeption“, die auf eine bloße zeitliche Streckung des Verlustvortrags ausgerichtet ist, mit der Verfassung in Einklang stehen.
A. Die vorgelegten Regelungen sind mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vereinbar.
I. Soweit die zu beurteilenden Vorschriften bei Überschreiten des Sockelbetrags von einer Million Euro (sog. Mittelstandskomponente) den Abzug vorgetragener Verluste pro Besteuerungszeitraum auf 60 Prozent des Restbetrags beschränken, bewirken sie eine Ungleichbehandlung von Steuerpflichtigen abhängig von der Höhe des Gesamtbetrags der Einkünfte beziehungsweise des maßgebenden Gewerbeertrags. Bei einem Gesamtbetrag der Einkünfte oberhalb des Sockelbetrags führen die zu beurteilenden Vorschriften indes zu einer formalen Gleichbehandlung sämtlicher Körperschaftsteuersubjekte beziehungsweise Gewerbebetriebe, also auch solcher Steuersubjekte, die nicht fortbestehen, sondern deren zivil- und steuerrechtliche Existenz infolge von Liquidation oder Insolvenz beendet wird. Ob dies eine Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem darstellt, kann offenbleiben, weil eine solche Gleichbehandlung jedenfalls gerechtfertigt wäre.
II. Die durch die zu beurteilenden Vorschriften bewirkten (Un‑)Gleichbehandlungen sind am Willkürmaßstab zu messen. Die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Kriterien führen vorliegend nicht zu einer Verschärfung des verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsmaßstabs hin zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung.
Die durch die Regelungen der Mindestgewinnbesteuerung in der sogenannten „Grundkonzeption“ bewirkte Ungleichbehandlung wie auch die formale Gleichbehandlung in der besonderen Sachverhaltskonstellation eines „Definitiveffekts“ nach Eintritt eines „bilanzsteuerrechtlichen ‚Umkehreffekts‘“ sind nicht willkürlich, sondern durch sachliche Gründe gerechtfertigt.
1. a) Die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung infolge der Begrenzung des Verlustvortrags der Höhe nach in der „Grundkonzeption“ der Mindestgewinnbesteuerung wird durch den sachlichen Grund kontinuierlicher und gegenwartsnaher Besteuerung als besonderem Fiskalzweck getragen. Die Mindestgewinnbesteuerung ist darauf gerichtet, jedenfalls einen gewissen Zugriff des Staates auf gegenwärtige Unternehmensgewinne zu gewährleisten, indem Altverluste nicht unbeschränkt in Ansatz gebracht werden können. Damit ist dem Gesetzgeber durch Sicherstellung einer positiven Bemessungsgrundlage daran gelegen, das Steueraufkommen „beständig zu machen“.
Die Zwecksetzung der zu beurteilenden Vorschriften geht über den rein fiskalischen Zweck staatlicher Einnahmenerzielung beziehungsweise Einnahmenerhöhung hinaus. Die Mindestgewinnbesteuerung zielt primär darauf, trotz bestehender Verluste aus vorangegangenen Besteuerungsabschnitten eine positive Bemessungsgrundlage verfügbar zu machen und damit die Steuereinnahmen zu verstetigen. Die Steuerzahllast des einzelnen Steuerpflichtigen wird im Zeitverlauf insgesamt aber nicht betragsmäßig erhöht, sondern die Bemessungsgrundlage abweichend über die Veranlagungszeiträume verteilt. Es ist nicht ersichtlich, dass die Annahme des Gesetzgebers, durch eine Streckung des Verlustvortrags „auf Dauer eine Verstetigung der Staatseinnahmen zu gewährleisten“, evident neben der Sache liegt. So kann dem Evaluierungsbericht der Facharbeitsgruppe „Verlustverrechnung und Gruppenbesteuerung“ entnommen werden, dass für die Jahre 2004 bis 2008 speziell in Fällen hoher Verlustvorträge einzelner Körperschaftsteuersubjekte die Mindestgewinnbesteuerung zu einem (temporär) höheren und damit verstetigten Steueraufkommen geführt hat.
b) Die „Grundkonzeption“ der Mindestgewinnbesteuerung genügt auch den verfassungsrechtlichen Anforderungen an typisierende Regelungen.
aa) Der Gesetzgeber geht – gerade bei „ewig lebensfähigen“ juristischen Personen – zunächst vertretbar davon aus, dass Verluste vergangener Besteuerungsperioden im Laufe der Zeit grundsätzlich abgetragen werden können. Die in der gesetzlichen Verankerung eines Sockelbetrags des Verlustvortrags in Höhe von einer Million Euro (sog. Mittelstandskomponente) zum Ausdruck kommende Anknüpfung an „große“ Unternehmen liegt ebenfalls nicht außerhalb des gesetzgeberischen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums und folgt mit Blick auf den durch eine kontinuierliche und gegenwartsnahe Besteuerung zu verwirklichenden Verstetigungszweck keinem atypischen Fall als Leitbild. Ebenso wenig liegt die gewählte Höhe der gesetzlichen Parameter (Sockelbetrag kombiniert mit einem Abzugsprozentsatz) evident neben der Sache. Weiter durfte sich der Gesetzgeber bei der Auswahl und der Ausgestaltung (Höhe) der typisierenden Merkmale auf eine möglichst hohe Praktikabilität und Einfachheit der Vorschriften als sekundären Regelungszweck stützen. Dass die zu beurteilenden Vorschriften praktisch „einfach handhabbar“ sind und der feste Sockelbetrag durch die Nichterfassung kleiner und mittlerer Unternehmen dazu beitragen kann, die Rechtsanwendung zu vereinfachen, erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen.
bb) Der aus der typisierenden Regelung der Mindestgewinnbesteuerung resultierende Nachteil, dass Verlustvorträge über die Zeit mangels ausreichender positiver Einkünfte nicht vollständig aufgezehrt werden können und gegebenenfalls endgültig ungenutzt wegfallen („Definitiveffekt“), steht in einem vertretbaren Verhältnis zu dem mit der Regelung primär verfolgten Ziel kontinuierlicher, gegenwartsnaher Besteuerung.
Der Steuerpflichtige trägt zwar das Risiko, ob er über einen hinreichenden Zeitraum tätig sein wird und innerhalb dessen kontinuierlich Gewinne erwirtschaftet, um vorhandene Verluste sukzessive in Ansatz bringen zu können. Ein solches allgemeines Risiko ist indes keine Besonderheit der genannten Vorschriften und hebt sich letztlich kaum von dem sogenannten Unternehmerrisiko ab. Auch soweit die zu beurteilenden Vorschriften – als Folge der Streckung des Verlustvortrags auf der Zeitachse – den wirtschaftlichen „Wertverlust“ bei Wegfall von Verlustvorträgen infolge eines „Definitiveffekts“ erhöhen, hat der Gesetzgeber mit Blick auf das angestrebte Reglungsziel die Grenzen seiner Typisierungsbefugnis nicht überschritten. Ein Wegfall von Verlustvorträgen ist in den verfahrensgegenständlichen Vorschriften nicht als Rechtsfolge vorgesehen, sondern resultiert unmittelbar (erst) aus anderen Vorschriften oder Rechtsgrundsätzen.
2. Die durch die Regelungen der Mindestgewinnbesteuerung bewirkte formale Gleichbehandlung in der vom Bundesfinanzhof vorgelegten besonderen Sachverhaltskonstellation eines endgültigen Wegfalls von Verlustvorträgen („Definitiveffekt“) nach Eintritt eines „bilanzsteuerrechtlichen ‚Umkehreffekts‘“ überschreitet die Grenzen der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers nicht.
Der Gesetzgeber war bei seiner Typisierungsentscheidung nicht von Verfassungs wegen gehalten, die seitens des vorlegenden Gerichts aufgegriffenen besonders gelagerten Fälle eines „Definitiveffekts“ nach „bilanzsteuerrechtlichem ‚Umkehreffekt‘“ durch eine Härteklausel abzumildern und damit zu privilegieren.
a) Es ist nicht ersichtlich, dass durch die Typisierung eintretende Härten in diesen atypischen Fällen für den Gesetzgeber ohne Schwierigkeiten durch eine abweichende Tatbestandsbildung vermeidbar gewesen wären. Die Konzeption des Verlustvortrags ist nicht auf eine Kompensation einzelner Geschäftsvorfälle, sondern auf die Saldierung aggregierter (vorgetragener) Verluste mit dem positiven Gesamtbetrag der Einkünfte der laufenden Periode angelegt. Gerade diese „Ursachenneutralität“ des Verlustvortrags, die durch die Mindestgewinnbesteuerung unberührt bleibt, hat zur Folge, dass sich die besondere Sachverhaltskonstellation des Ausgangsverfahrens nicht als ohne Schwierigkeiten gesetzlich regelungsfähig und damit als ohne Weiteres vermeidbar erweist.
b) Die Vorteile der typisierenden Ausgestaltung der Mindestgewinnbesteuerung stehen nicht außer Verhältnis zu den mit ihr im Einzelfall verbundenen Härten infolge der formalen Gleichbehandlung von Körperschaftsteuersubjekten und Gewerbebetrieben, bei denen es nach Eintritt eines „bilanzsteuerrechtlichen ‚Umkehreffekts‘“ zu einem (teilweisen) Wegfall von Verlustvorträgen oder vortragsfähigen Gewerbeverlusten infolge einer Beendigung der Steuerpflicht kommt.
Hierbei sind insbesondere die folgenden Aspekte zu berücksichtigen: Zunächst bewirkt die Mindestgewinnbesteuerung selbst nicht den Wegfall von Verlustvorträgen. Weiter sehen das Körperschaftsteuerrecht und diesem folgend das Gewerbesteuerrecht besondere Vorschriften der Liquidationsbesteuerung bei Kapitalgesellschaften vor und schließlich lässt das allgemeine Verfahrensrecht die Gewährung von Billigkeitsmaßnahmen im Einzelfall zu. Es ist – unter Heranziehung der genannten Aspekte – nicht ersichtlich, dass die vorliegend zu beurteilende Sonderkonstellation mehr als nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Steuerpflichtigen beträfe und das Ausmaß der Gleichbehandlung nicht gering bliebe.
Bei der vorzunehmenden Evidenzkontrolle ist nicht erkennbar, dass durch die typisierende Gleichbehandlung in der im Vorlagebeschluss beschriebenen Sachverhaltskonstellation eintretende Härten mehr als nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Körperschaftsteuersubjekten beziehungsweise Gesellschaften beträfen und das (qualitative) Ausmaß mehr als nur gering einzuschätzen wäre. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch in dem Besteuerungszeitraum, in dem der „Definitiveffekt“ eintritt, ein Verlustabzug in Höhe von 60 Prozent des eine Million Euro übersteigenden Gesamtbetrags der Einkünfte beziehungsweise des maßgebenden Gewerbeertrags erfolgt. Das allgemeine Risiko der nicht vollständigen Verlustnutzung realisiert sich auch in der besonderen Konstellation des Ausgangsverfahrens nur hinsichtlich des in den vorangegangenen Besteuerungszeiträumen infolge der Mindestgewinnbesteuerung nicht abgezogenen (zeitlich gestreckten) Teilbetrags an Verlusten.
B. Die zu beurteilenden Vorschriften verstoßen auch nicht gegen die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG).
Fundstelle
BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2025 - ; Pressemitteilung Nr. 71/2025 vom .