„Much more than a market” – Enrico Lettas Bericht zur Zukunft und Wettbewerbsfähigkeit des EU-Binnenmarktes

Im April 2024 veröffentlichte Enrico Letta seinen Bericht „Much more than a market”. Er befasst sich mit der Zukunft und Wettbewerbsfähigkeit des EU-Binnenmarktes und setzt sich u. a. kritisch mit der gegenwärtigen EU-Beihilfepraxis auseinander. Dabei macht er konkrete Vorschläge, wie das EU-Beihilferecht in Zukunft ausgestaltet werden sollte, um schädliche Wettbewerbsverzerrungen sowie die Fragmentierung des EU-Binnenmarktes zu verhindern.

Verfasst von Kerstin Rohde

Strukturelle Veränderungen fordern eine Anpassung des EU-Binnenmarktes

Seit der ersten Idee im Jahr 1985 hat der EU-Binnenmarkt erhebliche strukturelle Veränderungen erfahren. Neben seinem stetigen Wachstum nennt Enrico Letta den

  • demografischen und wirtschaftlichen Wandel,
  • Ausschluss des Finanzmarktes, der elektronischen Kommunikation und Energie aus den Grundfreiheiten sowie
  • die Ausbreitung von (Handels)Kriegen und die sich hieraus ergebende Bedrohung für das Fundament der EU: der freie Warenverkehr und ihre Offenheit

als Umstände, die eine Adaption des EU-Binnenmarktes erfordern, um ihn sowie die Europäischen Leitlinien (European standards) zu stärken und schützen. Dabei ginge es insbes. auch um die Frage, wie die Ziele der EU-Kommission, namentlich: (i) die faire grüne und digitale Transformation; (ii) die Expansion des EU-Binnenmarktes durch die Aufnahme weiterer Mitgliedstaaten sowie (iii) die Stärkung der europäischen Sicherheit, finanziert werden können.

Die Bedeutung des EU-Beihilferechts für den EU-Binnenmarkt

Beihilfen sollen durch die Mobilisierung privater Investitionen Marktversagen beheben. Enrico Letta sieht dies auch, fordert in seinem Bericht aber „a more European approach“ (einen europäischen Ansatz), um das Spannungsverhältnis zwischen Industriepolitik und den Rahmenbedingungen des EU-Binnenmarktes, d. h. zwischen der Behebung von Marktversagen einerseits und einer drohenden Fragmentierung des EU-Binnenmarktes andererseits zu lösen. Die vergangene Lockerung des EU-Beihilferechts habe zwar zur Eindämmung negativer Auswirkungen der gegenwärtigen Krisen auf die Realwirtschaft beigetragen. Sie habe aber auch zu Wettbewerbsverzerrungen geführt. Es bestünde die Gefahr, dass ein solcher Ansatz in Zukunft die Verzerrungen der gleichen Wettbewerbsbedingungen innerhalb des EU-Binnenmarktes aufgrund der unterschiedlichen fiskalischen Spielräume der Mitgliedstaaten verstärke.

Das EU-Beihilferecht als Bestandteil einer Industriestrategie

Laut Enrico Letta müsse die EU aufgrund des globalen Wettbewerbs eine wettbewerbsfähige Industriepolitik als Gegengewicht zu Instrumenten wie dem US Inflation Reduction Act entwickeln.

Auch das EU-Beihilferecht sei hierfür von entscheidender Bedeutung. Um die Integrität des EU-Binnenmarktes zu gewährleisten, müssten Beihilfen an klar definierte und an den Zielen der EU orientierten Auflagen geknüpft werden, deren Einhaltung überwacht und durchgesetzt werde. Zur Vermeidung eines „Beihilfe-Shoppings“ müssten nationale Beihilferegelungen in allen Mitgliedstaaten dieselben Auflagen vorsehen. Sie könnten vorab die Beihilfefähigkeit bestimmen oder hinterher das unternehmerische Verhalten beeinflussen, wie z. B. die Auflage zur Eröffnung des Zugangs zu geförderten Produkten und Dienstleistungen oder zur Gewinnbeteiligung und Reinvestition.

A more European approach – Zwei konkrete Vorschläge zur Adaption des EU-Beihilferechts

Enrico Lettas „more European approach“ zur Gewährleistung der Integrität und gleicher Wettbewerbsbedingungen des EU-Binnenmarktes basiert auf zwei konkreten Vorschlägen:

  1. Die mitgliedstaatliche Beihilfegewährung solle strenger überwacht und die finanzielle Unterstützung durch die EU ausgebaut werden. Konkret schlägt Enrico Letta einen Beitragsmechanismus vor, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, einen Teil ihrer nationalen Mittel für die Finanzierung europaweiter Initiativen und Investitionen bereitzustellen.
  2. Daneben bedürfe es einer gemeinsamen Governance, durch die bestehenden Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten verringert werden. Für viele industriepolitische Ziele könne insoweit das IPCEI-Modell als Blaupause dienen. Es verfolge bereits einen europäischen Ansatz, denn IPCEI-Vorhaben müssen
  • zu den Zielen der EU beitragen;
  • nachweisen, dass sie wichtige Markt- oder Systemmängel beheben oder wichtige gesellschaftliche Herausforderungen angehen;
  • Unternehmen aus mehreren Mitgliedstaaten einbeziehen und allen Mitgliedstaaten die Möglichkeit zur Teilnahme geben sowie
  • positive Spillover-Effekte über die teilnehmenden Mitgliedstaaten hinaus erzeugen, indem sie einen Wertschöpfungskettenansatz verfolgen.

Die bestehende IPCEI-Mitteilung müsse dazu überarbeitet werden, um ihren Anwendungsbereich zu erweitern. Je nach verfolgtem industriepolitischem Ziel könnten geringere Innovationsgrade als den globalen Stand der Technik überschreitende und Reifegrade nach der ersten gewerblichen Nutzung abgedeckt werden.

Straffung und Vereinfachung des EU-Beihilfeverfahrens

Ferner sollte laut Enrico Letta die „vielfältige und komplexe Landschaft der staatlichen Beihilfen“ vereinfacht werden. Der Verwaltungsaufwand für Unternehmen müsste verringert, die Beihilfevorschriften harmonisiert und die Prüfung beschleunigt werden, um den Zugang zu Beihilfen insbes. für KMU zu erleichtern.

Ausblick

Ein „more European approach“ in diesem Sinne ist dem EU-Beihilferecht nicht fremd. Der Vorschlag, diesen nach der Blaupause des IPCEIs zu gestalten, scheint bereits teilweise Gehör gefunden zu haben. So enthält die Vereinbarkeitsprüfung von Investitionsbeihilfen für Halbleitervorhaben im Rahmen des European Chips Act u. a. Fragen nach dem Vorliegen von Spill-over Effekten sowie der pan-europäischen Zusammenarbeit mit Unternehmen. Auch an anderer Stelle macht sich ein „more European approach“ bemerkbar. So beginnt die EU-Kommission Vorhaben, die von wichtiger Bedeutung für die EU sind, zu „zertifizieren“. Beispiele hierfür sind das Statusverfahren nach dem European Chips Act (wir berichteten), strategische Vorhaben nach dem Critical Raw Materials Act oder das STEP bzw. Sovereignty Seal für technologisch wichtige Vorhaben.

Ob das IPCEI als Blaupause für eine gemeinsame Governance, bei gleichzeitig strafferen und einfacheren Beihilfeprozessen, zweckmäßig ist, bleibt abzuwarten. Aufgrund ihrer Komplexität waren die Verfahren in der Vergangenheit aufwendig und zeitintensiv.

Co-Autorin des Beitrags ist Katrin Gerb.

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